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Im Rausch der Bilder – Ein Kunsterlebnis besonderer Art

Einst befand sich in den Räumen des heutigen Atelier des Lumières in Paris eine Gießerei. Seit einem Jahr wird hier nun die Kunst weltberühmter Maler präsentiert – in bewegten Bildern von überdimensionaler Größe, projiziert auf die 10 Meter hohen Wände und auch auf den Boden der Halle. Aktuell werden dort die Bilder eines Künstlers gezeigt, den ich besonders liebe: Vincent van Gogh. Als ich einige Bildbeispiele im Internet sah, war ich fasziniert.

Geht es hier um bloße Effekthascherei oder wirklich um ein Kunsterlebnis von besonderer Qualität, fragte ich mich. Und wollte es wissen. Also habe ich mir das Ganze vor Kurzem einmal mit meinen eigenen Augen angeschaut. 

Optische Sensation – akustische Manipulation

Man muss eine Weile mit der Metro fahren, bis man im 11. Arrondissement ankommt, wo das Atelier des Lumières liegt. Und doch nahmen an diesem Tag außer mir so viele Menschen diese Fahrt auf sich, dass am Eingang eine lange Schlange darauf wartete, ein Ticket zu bekommen – und das abends um 19 Uhr. Ich hatte mir glücklicherweise vorab mein Ticket bereits online gebucht und konnte gleich hinein.

Was mich drinnen erwartete, war erst einmal Dunkelheit und, gemessen an der großen Zahl an Menschen, die sich in der Halle aufhielten, erstaunliche Stille. Und dann: eine Mischung aus Museum und Kino. Gemälde, die vom Künstler seinerzeit einmal schlicht mit Ölfarbe auf vergleichsweise kleinen Leinwänden erschaffen worden waren, erscheinen hier in bewegten Bildern, riesengroß, fragmentiert, herangezoomt – eine gigantische optische Sensation. Dazu kein menschlicher Kommentar, keine Erklärungen oder Interpretationen, aber … begleitende Musik. Wer die Macht der Musik über die Gefühle von Menschen kennt, weiß, wie manipulativ die Verbindung von Bild und Musik wirken kann – auch oder gerade wenn es um Kunst geht. 

Filmmusik zeigt das in aller Deutlichkeit. Doch Filmmusik wird vom Produzenten bzw. Regisseur beauftragt und somit in gewisser Weise vom Erschaffer kontrolliert. Hier dagegen haben Menschen des 21. Jahrhunderts den Bildern eines van Gogh aus dem 19. Jahrhundert eine musikalische Begleitung verordnet, auf die der Erschaffer dieser Bilder keinen Einfluss mehr nehmen kann. Jazz, Klassik, Unbekanntes und auch ein Popsong sind dabei. 

Also tatsächlich eine Mischung aus Museum und Kino. Das muss bei dieser Art der Präsentation wohl so sein, denn sie verträgt nicht die Stille, die die Betrachtung des Originals geradezu verlangt. Eine derart überwältigende Optik würde sich ohne akustische Begleitung im Raum verlieren und somit niemals die intensive Wirkung entfalten können, die sie hier entfaltet.

Ist das nun gut oder schlecht?

Vielleicht stellen Sie sich beim Lesen gerade in diesem Moment diese Frage. Ich habe sie mir gestellt. Und für mich ist das auf keinen Fall eine moralische Frage. 

Die Betreiber des Atelier des Lumières werden selbstverständlich alles tun, um möglichst viele Menschen in ihre Präsentationen zu locken, und das gelingt ihnen ganz offensichtlich ja auch sehr gut.

Menschen, die sich ohnehin für Kunst oder in diesem Fall für van Gogh interessieren, mag diese Art der Präsentation vielleicht fragwürdig erscheinen. Doch da gibt es ja auch viele Menschen, denen die etablierte akademisch-museale Präsentation von Kunst fremd ist. Sie besuchen die spektakuläre „Show“ im Atelier des Lumières aus Neugier auf die Andersartigkeit der überdimensionalen digitalen Präsentation. Sie kommen mit ihrer Familie, ihren Kindern und Babies, suchen sich ihren Platz im Raum, lassen sich nieder und genießen die „Show“. Wenn sie damit einen eigenen Zugang zur Kunst oder zu van Gogh finden, der ihnen womöglich Lust auf Mehr macht, dann wäre allein das aus meiner Sicht schon großartig. Und dass die Babies, die ich beobachten konnte,  hellauf begeistert von den Farben und Formen waren, die sich an den Wänden zeigten, spricht für sich.

Sinnlicher Kunstgenuss statt akademischer Expertise

Das Atelier des Lumières ist eine noch junge Einrichtung, seit rund einem Jahr hat der Ausstellungsort geöffnet. Klimt, Hundertwasser, Jugendstil, Art Deco waren die bisherigen Schwerpunkte der Ausstellungen, wobei mittels 140 Videoprojektoren die Kunstwerke auf eine gigantische Oberfläche von 3.300 m² projiziert werden. 

Die Wände sind 10 Meter hoch, die Räumlichkeit hat wegen ihrer Größe, der Höhe, der Raumtiefe, etwas Sakrales. Es ist dunkel, ganz dunkel, damit die überwältigenden Videoprojektionen ihre volle Wirkung entfalten können – in gewisser Weise ein Ehrfurchtsraum.

Die Ausstellung erreicht tatsächlich viele Menschen, quer durch alle Altersklassen, quer durch die Nationalitäten. Das schafft sie nicht nur durch die Brillanz der Projektionen, sondern auch durch ihre „Sprachlosigkeit“.

Es gibt keine Headsets, kein Museumsführer, der den Menschen ins Ohr flüstert, was sie über die Kunstwerke wissen müssen oder denken sollten. Das Atelier des Lumières ist kein Ort des Expertenwissens. Es ist ein Ort, an dem die Menschen auf eine neue Weise durch  Kunst erreicht und unmittelbar berührt werden. Und das ist meiner Auffassung nach immens wichtig: Neue Wege beschreiten und Technologien einsetzen, um ein Kunsterlebnis zu ermöglichen, dass den Raum für eigene Gedanken, Assoziationen und Interpretationen öffnet. 

Deshalb freut es mich, dass das Atelier des Lumières augenscheinlich erfolgreich ist. Es macht Spaß, sich dort aufzuhalten. Die Menschen sind sehr konzentriert, saugen die Bilder förmlich in sich auf. Nur ihrer eigenen Sinneswahrnehmung überlassen. 

Mein Fazit

Diese neu geschaffene Möglichkeit eines rein emotionalen Resonanzraums ist für die gezeigte Kunst ebenso interessant wie für die Menschen, die den Raum besuchen. Sie schafft ein Gegengewicht zur ökonomisierten Kunstwelt einerseits und zur akademisierten Kunstwelt andererseits. Das ist gut und wichtig. Als Gegengewicht kann sie aber nur erfolgreich sein, wenn es auch weiterhin andere Präsentationsformen gibt, von denen sie sich unterscheidet. Präsentationsformen, die zum Beispiel interaktiv angelegt sind, die mehr zum (Hinter)Fragen einladen als zum Konsumieren oder die es auch mal wagen zu provozieren. Die Frage nach dem „gut“ oder „schlecht“ findet somit ihre Antwort in einem „sowohl als auch“. Ein Besuch lohnt sich aus meiner Sicht auf jeden Fall.

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