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Ein Puzzle ohne Vorlage

Durch ein dichtes Nebelfeld hindurchzufahren ist mit großer Unsicherheit verbunden. Man sieht so gut wie gar nichts, hat wenig konkrete Anhaltspunkte, an denen man sich verlässlich orientieren könnte. Also fährt man so langsam, dass man jederzeit rechtzeitig abbremsen kann, wenn plötzlich ein vorausfahrendes Fahrzeug oder irgendein anderes Hindernis im Sichtfeld auftaucht. Fahren auf Sicht ist das einzig richtige, um aus einem solchen Nebel sicher herauszukommen.

So ähnlich wie einem Autofahrer im dichten Nebelfeld geht es jedem von uns und genauso allen Entscheidungsträgern, die große Verantwortung in diesen Zeiten der Corona Pandemie tragen.

 

Fahren auf Sicht

Natürlich hat dieser Vergleich, wie viele Vergleiche seine Schwäche darin, dass er nicht exakt die Details einer Situation trifft. Doch wenn er es wenigstens schafft, den Kern einer Situation zu treffen, hat er seinen Sinn, denn er kann genau deshalb dazu beitragen, diese Situation besser zu verstehen.

Fahren auf Sicht ist eine Fähigkeit, die lange nicht mehr gefragt war in den Ländern der industrialisierten Welt, in denen Geschäfts- und Gewinnplanung, manchmal wider besseres Wissen, dafür im Glauben an den Plan von unbegrenztem Wachstum, in den höheren Rang der Zukunftsbeherrschung erhoben wurde. So ist diese Fähigkeit, zunächst belächelt, vielerorts verloren gegangen. Gleichzeitig hat die Orientierung an den Quartalsergebnissen eines Unternehmens im Interesse des Shareholder Value eine andere Art von kurzer Sicht auf die Dinge über Jahrzehnte hinweg gefördert, ja geradezu gefordert. An dem damit verbundenen Kompetenzverlust waren nicht nur Aktionäre und Aufsichtsräte, sondern auch sehr teuer bezahlte Berater profitabel beteiligt.

 

Ausdauer ist gefragt

Und so wird auch jetzt bereits nach wenigen Wochen allererster Erfahrung und Kenntniserwerb zur Wirkungsweise dieses neuartigen Virus, das vor allem deshalb so gefährlich ist, weil es dagegen bisher weder ein Medikament noch einen Impfstoff gibt, der Ruf nach einer schnellen Rückkehr zur „Normalität“ immer lauter. „Das ist doch richtig“ denken Sie vielleicht. Nun ja, ob es richtig ist, wird sich zeigen. Verständlich ist es auf jeden Fall. Aber gerade weil es so verständlich ist, gehört viel Mut und Weitsicht dazu, aus einer führenden Entscheidungsposition heraus diesem Bedürfnis nicht mal eben so nachzugeben. Sondern sich stattdessen die Zeit zu nehmen und sie den Menschen im Land auch abzuverlangen, um zum frühestmöglichen Zeitpunkt die nächste richtige Entscheidung treffen zu können – die sich selbst dann im Nachhinein als falsch herausstellen kann. Hier und heute geht es um Resilienz, um Vernunft, um Lernfähigkeit und um Ausdauer.

 

Gleichung mit vielen Unbekannten

Wir erleben kollektiv wie schwierig das Handeln und Entscheiden in Unsicherheit ist. Und wir erleben im internationalen Vergleich, wie unterschiedlich die politischen Entscheidungsträger handeln, aber auch die Bürger agieren und reagieren. Wir befinden uns mit dieser Corona Pandemie in einem bisher nicht gekannten Erlebnis von Komplexität. Es ist eine Gleichung mit lauter Unbekannten, ein Puzzle ohne Vorlage. Hunderte von Puzzleteilen, aber keiner kennt das Bild. Und doch muss vernünftig gehandelt werden bevor diese Teile zu einem Bild geworden sind – jedenfalls solange bis es ein Medikament bzw. einen Impfstoff gibt.

Es geht um das Zusammenwirken von medizinischen bzw. gesundheitlichen Aspekten mit Aspekten der Betriebs- und Volkswirtschaft, der individuellen und familiären seelischen Bewältigung, der Sozialpsychologie und das Ganze nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer und letztlich globaler Ebene.

 

Die Faktenfrage

Wir haben uns daran gewöhnt, Entscheidungen und Prognosen aufgrund möglichst genauer Kenntnis der Sachlage und präziser Datenkenntnis zu treffen. Über nahezu alles kann man sich aufgrund von Zahlen, Daten und Fakten eine Meinung bilden, auf er dann eine Entscheidung basiert. Das gilt auf der persönlichen Ebene für den Kauf von Autos, elektronischen Geräten und Matratzen genauso wie es auf der politischen Ebene für Entscheidungen in der Lokal-, Landes- und Bundespolitik gilt. Wir haben gelernt zu planen und fühlen uns sicher, wenn wir einen Plan in der Tasche haben – wohl wissend, dass die Realität manchmal dazwischen kommt und der Plan geändert werden muss. Das alles kennen wir und mit den „Restunsicherheiten“ können wir auch umgehen. Und nun lernen wir, dass wir entscheiden müssen, ohne alle Fakten und Daten zu kennen. Wir müssen uns aus dem einen Reim machen was wir wissen, was uns plausibel erscheint und uns dementsprechend verhalten.

 

Ein falscher Reim

Manche machen sich allerdings einen falschen Reim auf das, was sich in den letzten Wochen in Deutschland getan hat. Die frühe restriktive Umgang mit der Pandemie durch Lock Down und Kontaktsperre hat glücklicherweise zu einem vergleichsweise milden Verlauf geführt. Kein Gesundheitssystem am Rande des Kollaps, keine rasant steigenden Zahlen von Infizierten und Toten. Dieser milde Verlauf ist den getroffenen Maßnahmen zu verdanken. Dennoch verführt er erstaunlich viele zu der Schlussfolgerung, das Ganze sei ja gar nicht so schlimm und werde nur aufgebauscht. Das ist so als sei man aus einem abstürzenden Flugzeug gesprungen und konnte gerade noch rechtzeitig den Fallschirm aktivieren. Doch weil uns das sichere Herabschweben zu langsam geht, wollen wir nun die Seile durchschneiden, die uns tragen.

Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus nach Spanien, Frankreich, Italien und nicht zuletzt in die USA wäre da hilfreich. Was dort geschieht ist Teil der globalen Faktenlage und zeigt, was auch hierzulande sein könnte, hätten wir nicht so frühzeitig so klug entschieden.

Wenn ich sehe wie unter dem Banner der Freiheit in nordamerikanischen Bundesstaaten Krankenschwestern beschimpft und bedroht werden, wenn sie sich den wild hupenden, die Nationalflagge schwenkenden Autokorsos warnend entgegenstellen, die für ihr freies Recht auf den Tod demonstrieren, dann möchte ich den Glauben an das verlieren, was man gesunden Menschenverstand nennt.

 

Es geht um Selbstbeherrschung

In den letzten Jahren wurde viel geschrieben und geredet über Komplexitätsmanagement, über Konzepte fürs Handeln und Entscheiden in Unsicherheit. Nun geht es darum, genau das auch in der Praxis zu tun: Es geht darum, klug zu agieren und den dritten Schritt nicht vor dem ersten zu tun. Das hat mit Intelligenz, aber auch mit der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung zu tun. Wenn wir die Situation beherrschen wollen, müssen wir zu allererst uns selbst beherrschen.

Das ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch eine große Lern- und Entwicklungschance. Und das nicht nur in Sachen Solidarität und Hilfsbereitschaft – in der unmittelbaren Nachbarschaft ebenso wie in der europäischen Nachbarschaft und auch in der weltweiten Zusammenarbeit. Sondern auch im Hinblick auf die Herausforderungen, die auf uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch zukommen werden.

Wie gut und schnell wir lernen könnte zu einer Frage des Überlebens werden angesichts des komplexen Zusammenwirkens unterschiedlichster Faktoren, die das Klima auf diesem Planeten gleichzeitig in bedrohlicher Weise verändern. Für dieses Puzzle gibt es allerdings bereits eine Vorlage.

More Dagmar Woyde-Koehler

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