Thoughts & Insights
Aus den Augen an die Wand
Wie entsteht ein Kunstwerk? Spontan expressiv mit Pinsel und Farben auf einer Leinwand, als Zeichnung oder Studie mit Bleistift auf Papier, mit Hammer und Meißel in der Hand am Stein oder mit den Fingern auf einer Tastatur? Oder als bereits vollendetes Bild im Kopf des Künstlers?
Jeder Künstler entwickelt eigene Vorgehensweisen, die sich im Laufe des Lebens ändern oder ergänzen können. Picasso fertigte unzählige Skizzen an, bevor er im Jahr 1907 sein atemberaubendes Bild „Les Demoiselles d´Avignon“ auf die große Leinwand brachte. Jahrzehnte später ließ er sich dabei filmen wie er spontan aus dem Handgelenk mit Pinsel und weißer Farbe auf eine Glasfläche malt. Aus dem Kopf über die Hand auf die Fläche.
Jackson Pollock ließ die Farben vom Pinsel herab auf die Leinwand tropfen, wo sie durch die dynamische Bewegung seiner Hand und seines Körpers um die am Boden liegende Leinwand herum zu Linien, Strukturen, Flächen und schließlich zu einem Bild wurden. Ein spontaner, intuitiv-energetischer Akt der Entladung?
Radikale Befreiung
Dieser „Befreiung des Bilds von der Handschrift des Künstlers“, wie OUBEY es nannte, verschrieb auch er sich in den ersten Jahren seines Schaffens. In manchen Bildern aus dieser Phase finden sich noch vereinzelte dünne Linien herabtropfender Farbe. In anderen wirken nur noch die in geheimer Rezeptur auf die beschichteten Hartfaserplatten verbrachten Materialien aufeinander ein und gestalten sich eigendynamisch zu Turbulenzen und, unterstützt durch ein wenig Thermodynamik von außen, zu einem Bild. Diesem Grundsatz blieb er einige Jahre lang treu bis hin zur letzten Konsequenz des Verzichts auf jegliche Authentifizierung durch Signatur.
Aus den Augen an die Wand
Am liebsten hätte er sich damals vom Prozess der Materialisierung seiner Bilder durch eigenes Zutun vollkommen befreit. Denn er hatte sie bereits fertig im Kopf gemalt, wie er einmal sagte. Sie standen ihm in ihrer ganzen Komplexität und Vielschichtigkeit als vollendete Werke vor seinem inneren Auge.
Sie malen zu müssen, damit andere sie sehen können, empfand er oft als Zumutung der physikalischen Dimension von Realität gegenüber der ungebundenen geistigen Realität, denn ihm war klar, dass das materialisierte Ergebnis niemals die Qualität der Vision erreichen würde. Seinen radikalen Wunsch nach einer Überwindung der Trennung von Geist und Materie in diesem Sinn fasste er einmal ebenso radikal in Worte: „Aus den Augen möchte ich sie an die Wand sprengen, meine Bilder“.
Was für eine fantastische Vorstellung! Drastisch, kraftvoll, unbändig – die Grenzen des Möglichen überschreitend. Damals, in den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, bewegte OUBEY sich mit dieser Sehnsucht im Bereich des Unerreichbaren, der Utopie. In zehn oder zwanzig Jahren wird es aufgrund der rasanten Entwicklung sowohl in der technologischen Entwicklung wie auch der neurologischen Forschung vielleicht möglich sein, die im Kopf eines Menschen entstehenden Bilder unmittelbar und direkt sichtbar zu machen.
Wenn Wünsche wahr werden
Vielleicht wird OUBEYs Wunschtraum, einst aus der Not der empfundenen Limitierung in seinem frühen Schaffen heraus entstanden, eines Tages für andere Künstler, Wissenschaftler oder Denker zur Wirklichkeit im Sinne einer Befreiung ihres Geistes von den Fesseln der Materie? Ob die materialisierten Ausdrücke des Gedachten in dem, was sie sichtbar machen, dann tatsächlich auch immer befriedigender sein werden als es die vermeintlich unvollkommenen, aus dem Kopf über die Hand aufs Papier oder die Leinwand gebrachten waren? Wer weiß schon so genau, was sich alles hinter einer Idee oder Vorstellung verbirgt, wenn sie sich, vom Filtersystem des Bewusstseins vollkommen befreit, äußern darf? Da könnte es womöglich auch unangenehme Überraschungen geben. In OUBEYs Fall hätte ich in dieser Hinsicht allerdings keine Befürchtungen, im Gegenteil. Auf diesem Wege würden mit großer Wahrscheinlichkeit noch faszinierendere Werke und Gedanken zum Vorschein kommen als die, die er uns in seiner selbst empfundenen Limitierung hinterlassen hat. Fast bin ich versucht, mich selbst in einen Zustand träumerischer Sehnsucht versetzen.
Freiheit in Demut
Schließlich befreite OUBEY sich selbst von seiner frühen Vorstellung des „von der Handschrift des Künstlers befreiten Bildes“. Damit begann eine ganz neue, enorm produktive Schaffensphase. In ihr entstanden GENESIS, StarPixels und viele andere großartige Bilder, alle mit erkennbarem Pinselstrich in Ölfarbe auf beschichtete Hartfaserplatten gemalt und jedes einzelne Bild signiert, oft sogar mit einer Gravur mitten hinein ins Bild. Die Grenzen unseres physischen Menschseins in der `Quarantäne, die uns vom unmittelbaren Erleben des Kosmos trennt´, wie OUBEY es einmal nannte, nicht nur zu erkennen, sondern sie auch anzuerkennen, zu akzeptieren, gehört zu dem, was ich Demut nennen möchte. Demut limitiert uns nicht, sondern eröffnet uns im Gegenteil neue, bisher ungeahnte Möglichkeiten. Demut ist ein Schlüssel zur Freiheit.
Schlüssel zur Freiheit
Dass OUBEY bereits in jungen Jahren diesen Schlüssel zur Freiheit finden konnte, war das Ergebnis seiner langen, radikalen, ehrlichen und kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst und dem, was seine Bestimmung als Künstler auf dieser Welt in diesem Universum sei. An einen solchen Punkt übereinstimmender (Selbst)Erkenntnis zu kommen, ist existenziell. Manche verlieren sich auf dem Weg dahin in ihren Sehnsüchten, andere halten den Kampf mit sich selbst nicht aus und geben auf. Dass OUBEY diesen Punkt der Entwicklung erreichte, bevor sein Leben so früh und unerwartet endete, ist einerseits seine eigene Leistung. Ich betrachte es aber auch als Geschenk, denn keiner weiß wieviel Zeit ihm bleibt, um zu diesem persönlichen Punkt der Entwicklung und Erkenntnis zu kommen oder ob er ihn überhaupt je erreicht.
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Bildquelle: OUBEY Computer Art (OCA), 1990
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