Thoughts & Insights

Wo die Zeit keine Bedeutung hat

Kaum etwas anderes bestimmt unser Leben und auch unser Lebensgefühl so sehr wie das, was wir Zeit nennen. Umso schwerer vorstellbar, dass es eine Zeit gab, in der es noch nicht einmal einen Namen für das gab, was wir heute Zeit nennen.

Unsere frühen Vorfahren lebten mit dem Wechsel von Tag und Nacht, im Wechsel der Tag- und Nachtgleichen. Sie orientierten sich am Stand von Sonne, Mond und Sternen und entwickelten so ein Gefühl für den Rhythmus des Lebens. Das, was erst zigtausende Jahre später als Zeit bezeichnet wird und noch viel später erst zu dem wird, was wir heute  darunter verstehen als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, kannten sie nicht: Messbare Zeit, die zum zentralen Taktschläger menschlichen Lebens geworden ist.

Der Bericht von Katie Weeman über ihre dreiwöchige Erfahrung vollkommener Zeitlosigkeit während der Polarstern Expedition im arktischen Winter am Nordpol hat mein Nachdenken über das, was wir Zeit nennen, neu entfacht. Am Nordpol gibt es keinen Anhaltspunkt für das, was wir unter Zeit verstehen. Der Nordpol hat kein Festland, besteht nur aus Wasser und alle Zeitzonen dieser Welt verschmelzen dort zu einer, und das heißt in diesem Fall zu keiner. Es gibt nichts, woran die menschliche Wahrnehmung  das Vergehen von Zeit festmachen könnte. Es gibt keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, denn es gibt keinen Sonnenaufgang und keinen Sonnenuntergang. Es ist immer dunkel. Alles ist immer gleich. Ein Dasein ohne Struktur. Eine Extremerfahrung der Abwesenheit von Zeit, die uns wieder einmal zu der Frage führt was Zeit überhaupt ist – gerade weil sie mit der Lebenswirklichkeit in unseren Breitengraden nichts zu tun hat.

Diese chronometrische Lebenswirklichkeit ist vergleichsweise jung. Noch bis zum 14. Jahrhundert wurde eine Stunde als der Zeitraum verstanden, der 1/12tel dessen beträgt, was zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang liegt. Eine Stunde war also etwas, was sich über den Verlauf eines Jahres und der verschiedenen Jahreszeiten hinweg kontinuierlich veränderte. Im Sommer waren die Stunden lang, im Winter waren sie kurz. Es gab noch keine rechnerische Basis, die jede Stunde einer anderen gleichstellte – egal zu welcher Zeit des Jahres sie stattfand.

Die Minute existierte im Zeitverständnis des Menschen zu dieser Zeit noch gar nicht. Erst mit der Erfindung der mechanischen Uhren beginnt die Art von Zeitmessung, die unser heutiges Leben bestimmt, in dem wir uns gelegentlich aufregen, wenn ein Zug ein paar Minuten Verspätung hat und wir deshalb möglicherweise den Anschlusszug für eine Weiterreise an einem Umsteigebahnhof verpassen.

Ganz zu schweigen von der Sekunde. Sie kam erst weitere 300 Jahre später dazu. Seither ist die exakte Genauigkeit der Zeitmessung sogar bis in Hundertstel von Sekunden hinein für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Diese Selbstverständlichkeit gehört neben vielen anderen wissenschaftlichen Berechnungen zu den Voraussetzungen dafür, dass wir auf den Mond fliegen und auch von dort wieder zurückkehren können. Insofern scheint es sich bei der messbaren Zeit um etwas Absolutes zu handeln, was allerdings von Einstein bereits vor mehr als 100 Jahren widerlegt wurde.

Verlassen wir gedanklich einmal wenigsten kurz den scheinbar sicheren Boden unseres chronologischen Verständnisses der messbaren Zeit und begeben uns hinein ins weniger gesicherte Gelände des subjektiven Zeiterlebens, das keine Sekunden, Minuten, Stunden oder Wochen kennt, sondern glückliche Momente, günstige Augenblicke, intensive Erlebnisse, kritische Situationen, prägende Erfahrungen – Erinnerungen ebenso wie Zukunftsvisionen. Eine Ebene, in der die Zeit sich nicht linear fortbewegt, wie es die Zeitmessung konstatiert, sondern sich vollkommen frei vorwärts und rückwärts im Denkraum unseres Gehirns bewegt, alles miteinander verknüpfen, ja sogar verschmelzen kann. Eine Ebene, in der die Zeit im Sinne eines regulatorischen Systems außer Kraft gesetzt wird.

Gehen wir noch einen Schritt weiter und beziehen in diese Überlegungen die universelle Konstante der Lichtgeschwindigkeit ein, die uns Menschen vom physischen Erleben des Universums trennt, dann erwächst aus dieser Befreiung der Gedanken von den Fesseln der Zeit eine außerordentlich schöpferische Kraft. Denn die Konstante der Lichtgeschwindigkeit „behält uns in einer Art Quarantäne, deren Grenzen wir nur mit Hilfe der Phantasie überwinden können“, wie OUBEY es einmal formulierte als er seine Kunst des PhotonPainting als Reminiszenz an diesen Grenzcharakter bezeichnete. Das ist die wahre Freiheit der Kunst: Sie versetzt den, der sich ihr öffnet, in einen Zustand ebenso seltsamer wie wunderbarer Zeitlosigkeit. Wer würde je an Zeit denken, wenn er Debussy´s Suite bergamesque oder Beethovens Mondscheinsonate hört? Und es ist die wahre Freiheit der Liebe. Wer würde je an Zeit denken, wenn er etwas tut, was er liebt.

Doch wir werden in eine Welt der gemessenen Zeit hinein geboren. Die Minute unserer Geburt  wird ebenso bürokratisch festgehalten wie die unseres Todes. Alter wird in Jahren gemessen, nicht an der Reife des Geistes. Die Zeit legt ein gleiches Maß über alles. So hat alles scheinbar seine Ordnung. Unschwer vorstellbar das Chaos auf dieser Welt, wenn es einen Monat oder gar ein Jahr lang keine Uhren gäbe. Katie Weeman schreibt in ihrem Erfahrungsbericht vom Nordpol, in ihr sei der Eindruck aufgekommen, Zeit sei für uns nichts anderes als ein „Ritual mit dem Ziel, die Illusion einer Regularität zu erzeugen“.

Sie schreibt allerdings auch, wie froh sie darüber war, dass sie sich nach Beendigung ihres Aufenthalts am Nordpol darauf verlassen konnte, dass ihr Flugzeug nach Hause wie vereinbart tatsächlich losfliegen würde und das sogar zur angekündigten Zeit.

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