Thoughts & Insights
Keine biblische Geschichte
Ein Künstler reist in drei ukrainische Städte, um dort anonym inmitten von Kriegstrümmern seine Bilder auf kaputte Mauern und die Wände zerstörter Häuser zu malen. Die Bilder kursieren im Internet. Manche rätseln, doch die Handschrift ist unverkennbar: Hier war Banksy am Werk.
Nachdem er sich zu der Aktion bekennt, berichten die einschlägigen Feuilletons darüber, fragen nach deren Sinn und der Bedeutung der Bildmotive. Manche wundern sich darüber, dass er mit dieser Aktion ganz offensichtlich Partei für die Ukraine ergreift.
Mich wundert, dass man sich darüber so wundern kann.
Sympathie
Banksy war mir als intelligenter Spielverderber des kommerziellen Kunst- und Kulturbetriebs vom ersten Moment an sympathisch. Und seine Fähigkeit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit einer wirkungsvollen Aktion aufzutauchen und dabei meist auch noch komplexe Fragen und Themen visuell so zu bearbeiten, dass sie für jeden verständlich sind, beeindruckt mich immer wieder.
Er hat es geschafft, fernab des etablierten Kunstbetriebs mit seiner Straßenkunst die Menschen dort zu erreichen, wo sie leben und sich bewegen. Die enorme Geschwindigkeit, mit der sie sich dann viral in den sozialen Netzwerken verbreiten, zeigt ihre Wirkungskraft. So verbindet sich meine Sympathie mit ebenso großem Respekt.
Krieg
Die Filme und Fotos von den Gräueltaten der russischen Armee in Bucha und Irpin gingen im April um die Welt. Genau dort, in Irpin, und auch in den Ortschaften Borodjanka und Horenka hinterließ Banksy nun seine Spuren auf den zerstörten Mauern eines Kindergartens und den Wänden zerbombter Wohnhäuser. Wer diese künstlerischen Spuren sieht, sieht unweigerlich auch die Spuren der schrecklichen Verwüstung in diesen und unzähligen anderen Städten und Ortschaften der Ukraine. Banksy macht den Krieg schon allein dadurch zum Thema, dass er diese Bilder an die Orte bringt, wo sie sich im Lebensalltag der Menschen untrennbar mit den Spuren des brutalen Krieges verbinden, den Russland seit nunmehr neun Monaten gegen die Ukraine führt.
Resonanz
Was wohl die Menschen in Irpin, Borodjanka und Horenka zu diesen Spuren sagen, die Banksy Ihnen auf den Mauern ihrer zerstörten Häuser hinterlassen hat?
Die Resonanz auf Kunst oder eine künstlerische oder auch nichtkünstlerische Aktion ist mindestens ebenso interessant wie das Kunstwerk oder die Aktion selbst und letztlich das, was sie lebendig macht und am Leben hält. Der Spur dieses Gedankens folge ich selbst seit vielen Jahren. Auch das verbindet mich mit Banksy.
Die ersten Resonanzen im Internet zeigten nicht nur Banksy´s Bilder, sondern immer wieder auch Menschen, die sich vor den Bildern fotografieren ließen oder Selfies machten. Später stellte Banksy selbst ein Video mit Aufnahmen von seiner Aktion ins Netz. In amerikanischen und deutschen Fernsehberichten waren auch Kommentare von Menschen vor Ort zu hören, von denen einige sogar aus anderen Städten angereist waren, um die Wandbilder mit eigenen Augen zu sehen. Sie alle sprechen von Wertschätzung und Dankbarkeit dafür, dass einer wie Banksy den Mut hat, zu ihnen ins Kriegsgebiet der Ukraine zu kommen, um seine Solidarität und Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen. Manche äußern die Hoffnung, dass die Aktion eine neue Art der Aufmerksamkeit für den existenziellen Verteidigungskampf der Ukraine erzeugt. Andere sind einfach nur erstaunt über das, was sie sehen.
Kunst
Die Motive der Wandbilder sind befremdlich und berührend zugleich. Die Orte, an denen sie zu finden sind, wurden mit Bedacht ausgewählt. Manche bringen auf jeweils sehr eigene Weise die Vision eines unbeschwerten Lebens in die zerstörte Umgebung. Andere halten einen Moment existenziellen Schreckens im Alltag fest. Und eines scheint ausdrücklich Hoffnung machen zu wollen.
Da gibt es zum Beispiel eine Ballerina, die, mit Leichtigkeit auf der Spitze tanzend, ein Stoffband über dem Kopf schwingt als wäre sie auf einer Bühne; eine Frau, die im Morgenmantel mit Lockenwicklern im Haar, Gasmaske vorm Gesicht und Feuerlöscher in der Hand auf einem einsam an der Hauswand zurückgelassenen realen Stuhl „steht“; in den Resten eines zur Außenwand gewordenen gekachelten Badezimmers liegt ein Mann in seiner Badewanne und braust sich ab; auf einer realen Panzersperre an einer Straßenkreuzung wippen zwei Kinder; aus einem gepanzerten Fahrzeug ragt ein überdimensionaler Phallus empor; auf dem Einschlagloch eines Hauses vollführt eine Akrobatin einen Handstand; auf den Mauerresten eines zerstörten Kindergartens legt ein kleiner Junge im weißen Kampfanzug einen großen, starken Mann aufs Kreuz.
Besonders über dieses Bild des kleinen Jungen, der einen großen starken Mann aufs Kreuz legt, wird vor Ort und auch in den Medien spekuliert: Der Junge könnte die Ukraine symbolisieren, die Putin besiegt. So sieht es auch eine Ukrainerin in einem der Videos. Meine spontane Assoziation kam dieser Idee sehr nah. Sie weckte in mir die Erinnerung an die Geschichte von Davids Kampf gegen Goliath.
Eine biblische Geschichte
Wer kennt sie nicht, diese biblische Geschichte aus dem Alten Testament? Ein Hirtenjunge namens David besiegt einen Riesen namens Goliath. Das Alte Testament ist voller Geschichten, die fantastisch klingen – von den sieben Plagen, mit denen Gott die Ägypter straft, bis hin zum Roten Meer, das sich wundersam für die aus Ägypten fliehenden Israeliten teilt, um deren Verfolger dann anschließend unter sich zu begraben. Doch keine dieser Geschichten erschien mir, als ich sie in meiner Kindheit zum ersten Mal hörte, so realistisch wie die von David und Goliath.
Das lag nicht an der Erklärung für den Sieg des kleinen David gegen den übermächtigen Goliath, die Samuel uns liefert. Er schreibt, dass dies so geschehen musste, weil David von Gott auserwählt war, nächster König der Israeliten zu werden. Durch seine Heldentat gegen den feindlichen Philister vollzog sich das Wort Gottes und David wurde zu Israels legendärem König David. Eins der nobelsten Traditionshotels in Jerusalem trägt heute seinen Namen.
Weshalb David siegt
Was mich an dieser Geschichte dagegen so begeisterte, war die Vorstellung, dass David es aus eigener Kraft durch großen Mut, die intelligente Nutzung seiner Fähigkeiten und die Erkenntnis der größten Schwachstelle seines Gegners, der zwar riesengroß, schwer gepanzert und bewaffnet, damit aber auch schwer beweglich war, geschafft hat, diese monströse Kampfmaschine namens Goliath zu besiegen.
Denn als jüngster Sohn hütete David die Herde seiner Familie und verteidigte sie täglich gegen die räuberischen Angriffe wilder Tiere, die er durch den geschickten Einsatz seiner Steinschleuder in die Flucht schlug oder tötete.
Der Stein, den er gekonnt und mit großer Wucht gezielt gegen die Stirn seines scheinbar übermächtigen Gegners schleuderte, traf den dort so tief und hart, dass der kopfüber stürzte und mit seinem kolossalen Körper bewusstlos im Sand liegen blieb. Dass David ihm danach auch noch den Kopf abschlug und damit die ganze Heerschar der Philister in die Flucht schlug, die bis dahin siegesgewiss grölend den „Schwächling“ verhöhnt hatten, war mir nicht mehr in Erinnerung, als ich Banksy´s Spraybild anschaute. Das wurde mir erst wieder bewusst, als ich dieser biblischen Geschichte noch einmal etwas tiefer auf den Grund gegangen bin. Die Erzählungen des Alten Testaments sind nicht nur fantastisch, sondern gelegentlich durchaus auch von unverblümter Grausamkeit.
Sinnbild und Vorbild
Die Geschichte von David und Goliath jedenfalls steht seit Jahrtausenden als Sinn- und Vorbild dafür, dass schiere Größe nicht gleichbedeutend sein muss mit unbesiegbarer Kraft oder Macht. Dass ein einzelner Mensch, wenn er sich nicht von der scheinbaren Größe des Gegners einschüchtern lässt, sondern sich seiner eigenen Stärken besinnt und der Übermacht beherzt entgegentritt, das Blatt der Geschichte wenden kann. Insofern ist sie mehr als die Geschichte über einen göttlich Auserwählten. Sie ist eine ermutigende Geschichte, die bis ins 21. Jahrhundert hinein nichts an ihrer vorbildlichen Wirkungskraft verloren hat.
Da liegt der Vergleich zum mutigen Verteidigungskampf der Ukraine gegen die scheinbar unbesiegbare Übermacht der russischen Armee nahe. Und er wird von Banksy durch den Kontext, in den er das Bild stellt, auch durchaus nahegelegt – es befindet sich auf den Mauerresten eines zerstörten Kindergartens.
Keine biblische Geschichte
Doch es geht hier nicht um eine biblische Geschichte. Die Ukraine ist kein einzelner Mensch, sondern ein Land, eine Nation. Sie ist zwar klein im Vergleich zu dem riesigen Russland, das sie angreift mit dem einzigen Ziel, ihre Existenz auszulöschen. Aber sie kämpft nicht allein, sondern hat starke Partner an ihrer Seite, die sie in vielfältiger Weise unterstützen. Dennoch ist dieser Kampf schwer, dauert lange und fordert viele Opfer.
Eins aber hat die Ukraine für mich mit dem kleinen David aus dem Alten Testament gemeinsam: Sie hat als Gemeinschaft die beherzte Entschlossenheit, ihr Land und ihre Freiheit zu verteidigen und diesen Kampf zu gewinnen. Sie lässt sich nicht einschüchtern und sie gibt nicht auf.
Was bleibt
Banksy´s Bilder ändern nichts an der existenziellen Bedrohung, in der die Menschen in den von ihm besuchten Städten und der ganzen Ukraine seit nunmehr neun Monaten leben und gegen die sie sich mit großem Mut, ebenso großer Menschlichkeit und bewundernswerter Unbeugsamkeit verteidigen.
Doch nun sind sie da, diese Bilder. Unerwartet aufgetaucht wie aus dem Nichts, haben sie die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für ein paar Tage wieder verstärkt auf das gelenkt, was die Menschen in der Ukraine Tag für Tag erleben und erleiden, und woran sich ein Teil dieser Weltöffentlichkeit inzwischen bereits gewöhnt zu haben scheint.
Für die Menschen in der Ukraine, insbesondere in Irpin, Borodjanka und Horenka werden diese Bilder vermutlich auch nach dem Krieg eine bleibende Erinnerung daran sein, dass einer wie Banksy einmal zu denen gehörte, die an ihrer Seite standen – Standing with Ukraine.
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