Thoughts & Insights

La famille Ukrainienne

Wer an das Werk des russisch-französischen Malers Marc Chagall denkt, dem kommen vermutlich zu allererst diese traumhaft anmutenden oder auch biblischen Motive, oder auch seine Glasmalereien in den Sinn, die einige Kirchengebäude dieser Welt in ein wahrlich wunderbares Licht tauchen.

Es sind farbenfrohe Bilder. Manche kraftvoll, andere zart. Zumeist scheinen sie aus einer anderen Welt zu kommen, in der die Fantasie das Sagen hat und die Schwerkraft keine Rolle spielt. Tanzende oder frei im Raum schwebende Figuren wie diese weißgekleidete, blumengeschmückte Frau vor himmlisch hellblauem Hintergrund, die wohl jeder kennt, der sich je für Malerei interessiert hat.

Doch es gibt auch ganz andere Bilder. An eins dieser anderen Bilder erinnerte ich mich in diesen Tagen. Es ist sehr lange her seit ich es zum ersten Mal sah, doch von diesem ersten Moment an hat es mich so berührt, dass ich es bis heute nicht vergessen habe.

In der ersten Begegnung mit diesem Bild habe ich es bei seiner starken Wirkung auf meine Gedanken und Gefühle belassen. Nun tauchte es gestern unerwartet wieder in meiner Erinnerung auf. Ich begann im Internet danach zu suchen. Und als ich es endlich fand und seinen Titel las, konnte und wollte ich es nicht mehr wie einst bei der bloßen Wirkung belassen, sondern begann damit, mich über die möglichen Hintergründe seiner Entstehung zu informieren. Denn ich fand heraus, dass Chagall dieses Bild irgendwann zwischen 1940 und 1943 gemalt hat und ihm den Titel „La famille Ukrainienne“ gab.

„Die ukrainische Familie“, die Chagall Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts in diesem Gemälde festhielt, befand sich auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung. Also begann ich damit, mich zum ersten Mal in meinem Leben etwas genauer über die Geschichte der Ukraine zu informieren und möchte jedem, der sich heute über die Widerstandskraft dieses Volkes gegen die Invasion der russischen Streitkräfte wundert oder womöglich sogar meint, es solle den Kampf um die Verteidigung seiner Unabhängigkeit und Freiheit aufgeben, empfehlen, das auch zu tun.

Als Chagall dieses Bild malte, hatte Stalins „Großer Terror“ wenige Jahre zuvor die Ukraine heimgesucht. Mehrere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden in den GULag deportiert, mindestens 500.000 von ihnen kamen dabei ums Leben. Und nachdem Hitler den Nichtangriffspakt mit Stalin gebrochen und den Krieg gegen die Sowjetunion begonnen hatte, wurde die Ukraine Anfang der 40er Jahre zu einem der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs. Erneut kam unermessliches Leid über das Land. Die Geschichtsforschung schätzt, dass bis zu 7,5 Millionen Menschen, mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, damals ums Leben kam.

Und während ich zuhause an meinem Schreibtisch sitze und mich im Internet über ein Bild von Chagall und die Geschichte der Ukraine informiere, führen russische Streitkräfte auf Befehl ihres Präsidenten seit mehr als drei Wochen einen brutalen Angriffskrieg gegen die seit mehr als 30 Jahren endlich unabhängige, freie und souveräne Ukraine. Ich brauchte dieses Geschichtswissen nicht, um meine Position und Haltung zu finden. Doch dieses Geschichtswissen lässt mich besser verstehen, was für die ganze Welt in diesen Tagen eindrucksvoll offenbar wird: Dass und weshalb die Menschen in der Ukraine das kostbare Gut ihrer Freiheit um keinen Preis der Welt freiwillig hergeben werden. Nein, ich muss mich korrigieren. Ich glaube es zu verstehen. Wirklich verstehen kann das wahrscheinlich nur, wer diese Geschichte in sich trägt, die die Ukraine in sich trägt. Diese Ukraine, die heute für ihre Unabhängigkeit kämpft.

Ich trage eine andere Geschichte in mir. Dieser Geschichte und der damit verbundenen Verantwortung in der Gegenwart bin ich mir bewusst. Den Deutschen wurde, nachdem sie die Welt in einen Krieg von nie dagewesenem Ausmaß gestürzt haben, nach der bedingungslosen Kapitulation das geschenkt, wofür die Ukraine heute kämpft: Freiheit, Demokratie und – nach der Wiedervereinigung – auch noch die Souveränität. Gerade deshalb wünsche ich mir mehr Respekt gegenüber einem Präsidenten der Ukraine, der – wie einst Mannerheim in Finnland – dem Annexionsversuch Russlands auch höchst persönlich die Stirn bietet. Dass ein deutscher Bundeskanzler sprachlos bleibt nach der Ansprache dieses starken ukrainischen Präsidenten im Deutschen Bundestag, das hat mich nahezu sprachlos gemacht.

Die Erinnerung an ein Gemälde von Marc Chagall hat mich heute aus meiner Sprachlosigkeit befreit.

Dass sich Kunst und Geschichte mit der Nähe eines realen gegenwärtiger Kriegs in Europa einmal so in meinem Kopf miteinander verbinden würden, war nicht zu erwarten und hat mich überwältigt. Vor kurzem plante ich ja noch gemeinsam mit wunderbaren Menschen und Partnern in Moskau, dort im April eine riesengroße Ausstellung von OUBEYs Kunst zu präsentieren. Diese Ausstellung habe ich am 25. Februar dieses Jahres abgesagt. Da wusste ich noch nichts über die Geschichte der Ukraine. Aber ich hatte Putins Kriegserklärung im Fernsehen gesehen und gehört. Wer das gehört, gesehen und verstanden hat, wusste alles, was man wissen muss, um diese Entscheidung zu treffen. Und in dieser Haltung bin ich mir bis heute mit OUBEY einig.

„Building Bridges“ wäre der Untertitel dieses Events gewesen. Ich hoffe, dass wir irgendwann wieder Brücken nach Russland bauen können. Wann das sein wird, steht in den Sternen. Jetzt bauen wir erst mal Brücken in die Ukraine.

 

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Hier der Link zu einer gut strukturierten, kompakten Information über die Geschichte der Ukraine, veröffentlicht von der Bundeszentrale für Politische Bildung (bpb): Geschichte der Ukraine im Überblick | bpb.de

 

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