Thoughts & Insights
Musikalisch-Topographischer Versuch
Als die Erforschung frühgeschichtlicher Höhlen zum Fund einer Flöte führte, die nach Aussage von Paläoanthropologen ungefähr 30.000 Jahre alt sein dürfte, wurde klar, dass nicht nur die faszinierenden Wandmalereien, sondern auch das Hervorbringen von Klängen durch ein Instrument wie die Flöte bereits zu den Kulturtechniken unserer Vorfahren gehörte.
Musik ist eine besondere Kunst. Sie ist auf Anhieb in der Lage, Gefühle unterschiedlichster Art in uns hervorzurufen. Je nach Tonart, Rhythmus, Instrumentierung oder gesanglicher Koloratur schickt sie uns Schauer über den Rücken, ergreift uns, versetzt uns in glückliche Hochstimmung, erzeugt gute Laune oder die Lust zu tanzen, kann uns zu Tränen rühren, uns beruhigen oder in einen Zustand tiefer Entspannung entführen. Dabei ist Musik in ihrem Kern nichts anderes als reine Mathematik. Durch Musik verwandelt sich Mathematik auf wunderbare Weise in Gefühl. Wie ist das möglich?
Die Antwort beginnt mit einer Frage: Wie entsteht ein Klang? Mit dieser Frage setzte sich auch OUBEY auseinander und brachte seine Gedanken hierzu einmal in einer Trilogie von Zeichnungen zum Ausdruck, die er in den frühen Morgenstunden des 2. Dezember 1983 innerhalb einer bloßen halben Stunde zu Papier brachte.
Dieser künstlerische „musikalisch-topographische Versuch“ einer Antwort ist eine reflektierende Betrachtung der „Ordnung, Struktur und Organisation des Bewusstseins“ und des Zusammenspiels von „Rhythmischem und Amorphem“, wie er es selbst im Blatt 1 dieser Trilogie notiert hat.
OUBEYs Skizzen geben uns einen sehr persönlichen und nahen Eindruck von der Art und Weise, wie seine Gedanken, also sein Innerstes, durch seine Hand eine für die Außenwelt wahrnehmbare, inspirierende Gestalt annehmen. Etwas, das in jedem seiner Bilder und wohl auch in jedem Kunstwerk überhaupt enthalten ist, wird hier erkennbar offengelegt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb gerade diese Zeichnungen bisher so viele Betrachter ganz besonders faszinieren.
Doch wie lautet die Antwort aus der Perspektive wissenschaftlicher Forschung? Wie ist es möglich, dass aus einer Schallwelle tatsächlich ein musikalischer Klang entsteht? Die Frage beschäftigt Mathematiker und Physiker ebenso intensiv wie Musikwissenschaftler, Musiker und Hirnforscher.
Am Anfang steht ein vergleichsweise einfach ausgestattetes Organ: das Ohr. Es verwandelt die Schallwellen in elektrische Impulse. Über das Trommelfell werden die winzigen Luftdruckschwanbkungen registriert, über die Gehörknöchelchen verstärkt und dann auf eine Membran am Anfang des flüssigkeitsgefüllten Innenohrs übertragen. Das schneckenförmige Sinnesorgan vollbringt dann die erstaunliche Leistung, den Schall in seine einzelnen Frequenzen aufzuspalten.
Von nun an besteht das Gehörte nur noch aus Nervenimpulsen, die durchs Hirn rasen, wo dann die „reine Physik“ in schier unfassbar komplexe, hochgradig emotional gefärbte Wahrnehmung transzendiert wird. Und das ist es, was für viele das Faszinosum der Musik ausmacht. Sie ist eine – im wahrsten Sinne des Wortes – sensationelle Leistung des menschlichen Gehirns.
Doch damit nicht genug. Unser Ohr kann nicht nur Schallwellen unterschiedlicher Frequenzen in musikalischen Klang verwandeln. Neue Erkenntnisse der „Psychoakustik“ sprechen davon, dass unser Ohr sogar singen kann.
Brian Connolly hat diese Kunstfähigkeit unseres Ohrs wie folgt beschrieben: Unser Innenohr hat die Fähigkeit sich wie ein Instrument zu verhalten, das seine eigenen Klänge erzeugen kann. Viele Experimentalmusiker haben diese Fähigkeit des menschlichen Ohrs genutzt, um die Ohren ihrer Zuhörer zu beteiligten Leistungsträgern bei der Realisierung ihrer Musik zu machen.
Eine der spannendsten Spielarten musikalischer Kreativität ist das psychoakustische Phänomen, das unter dem Namen „otoakustische Emission“ bekannt. Dabei handelt es sich um Töne, die im Innenohr erzeugt werden, wenn es bestimmte Klänge wahrnimmt wie zum Beispiel die Emission der „difference tones“. Sie kommt zustande, wenn zwei klare Frequenzen ins Ohr eindringen, sagen wir z.B. 1000 Hz und 1200 Hz und der Zuhörer hört, wie zu erwarten, diese zwei Töne, dann erzeugt das Innenohr noch seine eigene dritte Frequenz von 200 Hz, die der mathematischen Differenz zwischen den beiden originalen Tönen entspricht. Das Ohr sendet exakt einen 200 Hz Ton zurück und hinaus, der mit einem Ohrmikrofon aufgenommen werden kann. Wenn Ärzte Hörtests mit Babies machen, wenden sie diese Prozedur/Messung als integralen Bestandteil ihrer Untersuchung an. Das bedeutet, dass Komponisten bestimmte Töne in ihrer Komposition erzeugen können und vorhersagen, dass die Ohren der Zuhörer ihre eigene zusätzliche Klangdimension hinzufügen/ergänzen, wenn sie das Musikstück hören. Bei einer bestimmten Lautstärke und innerhalb bestimmter Frequenzbreiten können die Zuhörer sogar fühlen wie es in ihren Ohren als Resonanz auf die stimulierenden Töne „buzzing“/summt! Es ist wirklich erstaunlich, wozu unser Ohr in der Lage! Diese Erkenntnisse bringen eine sehr spannende neue Ebene ins Machen und Hören zeitgenössischer Musik. Wenn man das Ohr nicht nur als Hörorgan, sondern auch als Instrument versteht und einsetzt, kann man als Zuhörer Erfahrungen mit Klang und Musik machen wie nie zuvor.
Wäre dies alles nicht wissenschaftlich so eindeutig erklärbar – man wäre geneigt von einem Wunder zu sprechen. Wir würdigen es, indem wir dem Geschenk des musikalischen Klangs unsere Aufmerksamkeit und Liebe schenken, wann immer dies passend und möglich ist.
___________________________________________________________________________
Wer mehr über diese Dimension der Fähigkeiten unseres Ohr erfahren und selbst auch einige Hörbeispiele kennen lernen möchte, dem empfehle ich den ausführlichen Originalbeitrag von Brian Connolly, dem auch die hier genutzten Informationen entnommen sind:
https://acoustics.org/5amu1-the-inner-ear-as-a-musical-instrument-brian-connolly/
Share