Thoughts & Insights

Palmsonntag oder der Geist in der Materie

Vom Wurzelballen bis zu den Spitzen ihrer Wedel erstreckt sich eine Palme in voller Länge diagonal durch einen angemessen dimensionierten Raum. „Palmsonntag“ hat Anselm Kiefer diese beeindruckende Installation genannt.

Wie nahezu alle Werke von Anselm Kiefer ruft sein „Palmsonntag“ eine lange Kette von Assoziationen in mir hervor. In diesem Fall sind es gedankliche Brückenschläge, die bis in meine Kindheit zurückreichen. Es ist die Verbindung zwischen der materiellen Qualität der Installation und ihrem bedeutsamen Titel, die diese Brücke schlägt zwischen dem, was ich vor einer lang vergangenen Zeit als Kind empfand, dem was sich seither in mir entwickelte und dem was heute daraus entstanden ist. Die Zeitebenen verschwimmen wie in einem Fluss. Ich gehe über die Brücke.

Vor mehr als zehn Jahren begegnete ich diesem monumentalen Werk zum ersten Mal, eher zufällig, in der Gagosian Gallery in New York. Das waren die Jahre, als ich wegen der Arbeit am MINDKISS Buch sehr oft in New York war. Ein Spaziergang durch die Galerien in Chelsea gehörte immer wieder dazu. Zur zweiten Begegnung kam es erst vor kurzem, als ich nach monatelangem Lockdown die Anselm Kiefer Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim besuchte. Auch diese Begegnung kam für mich unerwartet, denn ich hatte mich vorab nicht darüber informiert, welche Werke dort gezeigt werden.

Da lag sie nun ein zweites Mal vor mir, diese Skulptur, die irgendwann einmal eine lebendige Palme war. Ihre riesigen, scharfspitzigen Wedel mit zementartigem Staub bedeckt, ihr Stamm von Sandsteinen gestützt, ihr gewaltiger roter Wurzelballen in Form gebracht. Und ich lasse in meinem Kopf alles frei durcheinander fließen, was dieser Anblick einerseits und das Wort Palmsonntag andererseits in mir auslöst.

Erst einmal sehe ich einfach nur diese monströse, längst verstorbene Pflanze vor mir liegen. Sie war mal ein Wunderwerk der Natur, dessen Art seit 70 Millionen Jahren auf diesem Planeten existiert. Selbst unter widrigsten Bedingungen kann sie leben und überleben, bis heute. So wie sie hier entwurzelt vor mir liegt, macht mich ihr Anblick im ersten Moment traurig. Und doch ist selbst dieses tote Exemplar noch immer imposant, voller Kraft und Geist.

„Ich halte mich selbst nicht für einen Platoniker, aber ich glaube, dass der Geist in der Materie steckt und dass es die Aufgabe des Künstlers ist, ihn zu extrahieren“, sagte Anselm Kiefer einmal. Ich denke an OUBEY und unser Gespräch im Jahr 1992, als er über Joseph Beuys sprach und meinte, dass dessen untrügliches Materialgefühl zu der Fähigkeit führte, aus der Materie heraus einen Geist spürbar werden zu lassen.

Dann folgt in meinem Kopf ein Resümee individuell verinnerlichter Kulturgeschichte im Zeitraffer: „Palmsonntag“ – der Tag des großen „Hosianna“. Auf die Jubelfeier für den neuen König in den Straßen von Jerusalem folgt der Verrat an die machthabende Obrigkeit, dann die Festnahme und Verurteilung, für die der Verantwortliche seine Hände in Unschuld wäscht, und schließlich der brutale Tod am Kreuz. Doch der Tod ist nicht das Ende. Das ist die Botschaft. Der Tod ist nicht das Ende des Lebens. Der Tod wird überwunden durch die Auferstehung. Was für eine Geschichte. Sie bejubeln dich, sie verleugnen dich, sie verurteilen dich, sie kreuzigen dich. Doch du überwindest selbst den Tod. Seit diese Geschichte erzählt wird, enthält jeder „Palmsonntag“ in sich die Prophezeiung dieser Geschichte. Sie erschreckt, aber sie ermutigt auch.

Doch es bleibt ein Misstrauen in die Wankelmütigkeit der Gefühle und Launen der Menschen, insbesondere wenn sie in Massen auftreten. Sie begeistern sich heute und verleugnen morgen genau das, wofür sie sich gestern noch begeistert haben. Kaum zu glauben, dass es selbst heute noch eine inoffizielle Diskussion zwischen zwei Weltreligionen über die Schuldfrage in dieser Geschichte gibt. Wie kann man nur die Eschatologie einer solchen Geschichte durch die Diskussion über irgendeinen Schuldigen in Frage stellen?

Das ist vielleicht das Drama aller theistischen Religionen, dass sie zwar bis heute geglaubt werden, aber dennoch niemals wirklich in der heutigen Welt angekommen sind. Sie sind zu Abziehbildern einer Idee geworden. Versuchen nicht einmal, sich selbst zu verstehen oder gar einzuordnen in ein sich entwickelndes Bild von der Welt. Sie halten ihre zum Teil obskuren, aber gut erzählten Geschichten, die sie seit so langer Zeit erzählen, immer noch unverändert aufrecht und für wahr. Täten sie es nicht, wären sie vermutlich verloren.

Diese subjektiv-assoziative Folge von Gedanken entbehrt jeder kunsthistorischen Expertise. Anselm Kiefer bin ich dankbar für sein großartiges und einzigartiges Lebenswerk und hoffe, dass es auch in der Zukunft viele Menschen erreicht und ihnen ermöglicht, einen bisher unerkannten oder verdrängten Teil von sich selbst zu erkennen. Denn genau dafür schaffen und brauchen wir Menschen Kunst: Nicht um die Kunst zu verstehen, sondern um uns selbst und das Universum, in dem wir leben, wenigstens ein bisschen besser zu verstehen.

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