Thoughts & Insights

Halbzeit der Evolution

Bis vor ca. fünzehntausend Jahren hatten unsere Vorfahren als Nomaden in einer einfachen „Welt der vergehenden Gegenwart“ gelebt. Sie ernährten sich vom Jagen und Sammeln, waren auf die unmittelbare Befriedigung des Tagesbedarfs eingestellt.

Mit dem Ackerbau kam nicht nur die Sesshaftigkeit, sondern vor allem auch das „Ackerbaubewusstsein“ des Homo Sapiens von einer gestaltbaren, planbaren Zukunft ins Spiel.

Der wiederkehrende Prozess von Aussaat, Ernte und Verkauf bzw. Vorratshaltung von Nahrungsmitteln veränderte das Denken und brachte Kulturtechniken, Klassen- und (Stadt)staatenbildung, Königtum, Methoden der Organisation und sozialen Kontrolle hervor, und allem voran die Ausdifferenzierung der Sprache bis hin zur Entstehung erster Schriftzeichen. Das dürfte wohl einer der radikalsten Bewußtseinstransformationsprozesse in der Geschichte unserer Art gewesen sein, wenn nicht der radikalste überhaupt. Er ließ die moderne Welt entstehen.

Zeit und Geld wurden zu wesentlichen Faktoren von Macht und damit zu wichtigen Einflussfaktoren menschlichen Handelns. Auch die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, um deren Entstehen es im letzten Blogpost ging, findet nun ihren Zielpunkt mehr und mehr in der materiellen Welt der Macht: in der Anhäufung von Goldbarren und der Aufhäufung von Steinen zu Palästen, Monumenten und Grabstätten. Der Macht- und Totenkult der ägyptischen Pharaonenzeit mit seinen gigantischen Pyramiden ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel.

Auch wenn wir uns seither natürlich in unterschiedlichsten Hinsichten sehr weiterentwickelt haben, sind wir über das Bewußtseinsstadium, das damals begann, bis heute nicht wirklich hinausgekommen. Wir streben heute wie damals danach, Zeit und Geld zu gewinnen und damit verbunden auch zugleich Macht und Einfluss. Und wir haben – zumindest in der Gesamtheit als Gattung – unsere Sterblichkeit noch immer nicht wirklich als das akzeptiert, was sie in Wahrheit ist: die wesentliche Bedingung dafür, dass wir überhaupt leben. Unser Bewusstsein ist mehrheitlich immer noch das von Individuen, die sich von der übrigen Natur als etwas Getrenntes erleben und nicht als integrierten Teil eines großen kosmischen Systems. Wir befinden uns heute bestenfalls in der „Halbzeit der Evolution“ unseres Bewußtseinspotenzials als Menschen.

Aber möglicherweise haben wir heute, zehn- bis fünfzehntausend Jahre später – was evolutionsgeschichtlich betrachtet nicht mal ein halber Wimpernschlag ist – nun an der Schwelle zu einer Zeitenwende die Chance einer nächsten Bewußtseinstransformation. Unser Wissen über den Kosmos, in dem wir auf unserem Planeten Erde als Teil unseres Sonnensystem nur eine winzig kleine Facette eines viel größeren Systems darstellen, unser Wissen über mögliche zukünftige Entwicklungen auf unserem Planeten und die Konsequenzen unseres heutigen Handelns in der Zukunft ist in den letzten Jahrzehnten rasant gewachsen.

Unsere Fähigkeit, uns die damit verbundenen konkreten Szenarien so klar vorzustellen, dass wir unser Handeln dementsprechend schnell und drastisch verändern würden, bleibt dahinter bisher aber noch deutlich zurück. Die faktischen und vorhersehbaren Folgen unseres Handelns haben jedoch mittlerweile eine Dimension erreicht, die unsere eigene zukünftige Existenz bedroht erscheinen lässt. Unsere Fähigkeit, dies zu erkennen birgt in sich das Potenzial eines Zukunftsschocks der neuzeitlichen Art und könnte deshalb vielleicht eine nächste Transformation unseres Bewußtseins bewirken, die der Entwicklung des „Ackerbaubewußtseins“ vor zwölftausend Jahren in nichts nachsteht.

Überschrift und Wortzitate in diesem Blogpost stammen aus Ken Wilbers Buch „Halbzeit der Evolution“.

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