Dieser einseitigen Sicht möchte ich heute etwas entgegensetzen. Statistisch betrachtet verbringt der Mensch ein Viertel bis ein Drittel seiner Lebenszeit im Schlaf. Das hat die Natur so eingerichtet. Wer glaubt, diese Zeit sei „verlorene Zeit“, der irrt sich. Ich halte es für kein Gütesiegel eines produktiven Menschen, dass er so lange wie möglich wach bleibt und so wenig wie möglich schläft.
„Ich brauche nur vier Stunden Schlaf!“, hörte ich einmal den Vorstandsvorsitzenden eines großen Unternehmens in einer Gesprächsrunde mit jungen Nachwuchsmanagern mit stolzer Selbstverständlichkeit von sich sagen. Die implizite Botschaft dazu lautete „Erstens: Ich bin so wichtig und damit eine derart wertvolle Ressource, dass ich zwanzig Stunden am Tag arbeite und mir das Schlafen nahezu abgewöhnt habe. Und zweitens: Wenn Sie nach oben kommen und genauso wichtig werden wollen wie ich, dann gewöhnen auch Sie sich das Ausschlafen am besten möglichst bald ab.“
Im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart startete im Oktober eine Ausstellung mit Werken von 40 Künstlern zum Thema Schlaf. Der Titel der Ausstellung lautet „Sleeping with a Vengeance, Dreaming of a Life“ (Mit Tiefenwirkung schlafen, von einem Leben träumen). Die Kuratorin Ruth Noack weist darauf hin, dass dem Schlaf in unserer Gesellschaft nur das notwendige Minimum als Platz eingeräumt wird.
Ich finde es gut, dass hier auch einmal auf künstlerische Weise der Blick auf diesen wichtigen Aspekt menschlichen Lebens gerichtet wird. Denn der Mensch ist mehr als eine Ressource, die an ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und Verwertbarkeit zu messen ist. Schlaf ist dementsprechend kein notwendiges Übel, wie es den Anschein hat, wenn er auf die rein ökonomische Funktion reduziert wird.
Alles was lebt, muss schlafen. Jede Pflanze, jedes Tier und jeder Mensch. Das ist ein Naturgesetz. Manche von ihnen sind nachtaktive Wesen. Sie schlafen dann am Tag. Aber auch sie schlafen irgendwann. Die gesundheitlichen Probleme, die durch dauerhafte Arbeit in Wechselschicht entstehen können, zeigen, wie viel Kraft es kosten kann, den Schlaf an ökonomische Gesetzmäßigkeiten anzupassen. Und Schlafentzug ist nicht umsonst eine besonders perfide Foltermethode im breiten Arsenal menschlicher Schlechtigkeit, zumal ihre dramatischen Folgen keine offen erkennbaren Spuren hinterlassen.
Unser Geist, unser Bewusstsein, unsere Kreativität und Schaffenskraft sind auf den Schlaf angewiesen, auf das Sortieren und Verknüpfen von Erlebtem. Auf die Möglichkeit des Träumens. Das Ausruhen ist wertvoll – zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer es stattfindet. Der Mensch hat sich durch künstliches Licht und geheizte Räume die Möglichkeit geschaffen, sich von den Jahreszeiten und dem natürlichen Tag- und Nacht-Rhythmus zu verabschieden. Er kann die Nacht zum Tag zu machen, wenn er will und hat damit grundsätzlich die Freiheit, seinen eigenen individuellen Rhythmus zu leben – soweit ihm sein privates oder berufliches Umfeld dies erlaubt. Wer in einer Organisation tätig ist, in der es um Zusammenarbeit geht, wird nicht umhin kommen, tagsüber wach und aktiv zu sein und seinen Rhythmus darauf einstellen. Wer ein Baby oder Kleinkind großzieht, wird zumindest für einige Zeit auf geregelten Nachtschlaf verzichten müssen.
OUBEY hat vor allem und am liebsten nachts gearbeitet, ungestört vom Trubel der geschäftigen Außenwelt des Tages. Es war ein Moment seiner Freiheit und zugleich eine wichtige Grundlage für seine Schaffenskraft, dass er den eigenen, für ihn guten Rhythmus finden und leben konnte. Vielen Schriftstellern, Malern und Musikern geht es ganz ähnlich. Der Welt, die sich im „normalen“ Rhythmus der Mehrheit befindet – und das nicht immer freiwillig – ist diese Arbeits- und Lebensweise vielleicht suspekt.
Für mich aber war es immer selbstverständlich, OUBEYs Rhythmus zu respektieren – auch wenn mein eigener aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit seinerzeit ein ganz anderer war. Genauso respektiere ich den Rhythmus in der Lebens- und Arbeitsweise eines jeden anderen Menschen..
So seltsam es vielleicht auch klingen mag: Das Schlafen ist für mich ein Element und Zustand nicht nur der Erholung, sondern auch der Freiheit und in gewisser Weise sogar des Glücks.
Deshalb: Genießen Sie Ihren Schlaf!
Kunst und Kultur werden in der Moderne vor allem als Ausdruck der individuellen Gedanken und Inspirationen einzelner Künstler verstanden. Sie waren und sind aber noch immer zugleich auch Ausdruck des Weltverständnisses und Wertesystems einer Gesellschaft. Die Kultur der nordamerikanischen Indianer war – wie die Kultur in den meisten vorindustriellen Gesellschaften außerhalb Europas – geprägt von einer sehr engen Verbundenheit und einem tiefen Respekt vor der Natur.
Als ich zehn war, las ich einen Roman von Karl May nach dem anderen. Darin begegnete mir weniger die ursprüngliche indianische Kultur oder – wenn doch – dann eher in den Klischeevorstellungen eines belesenen und fantasiebegabten Deutschen, der selbst niemals in Amerika gewesen war. Doch was mir in den Geschichten immer authentisch schien und mein Verhältnis zur indianischen Kultur Nordamerikas sehr früh beeinflusst hat, war die von Karl May beschriebene ignorante und skrupellos brutale Vorgehensweise der weißen Einwanderer bei der Durchsetzung ihrer Interessen in der „Neuen Welt“: Macht, Land, Gold und später dann auch Öl.
So fragte ich mich mit zehn Jahren zum ersten Mal, was aus den Ureinwohnern Nordamerikas inzwischen geworden ist, wo und wo sie leben, welche Rolle sie in der amerikanischen Gesellschaft spielen und was von ihrer Kultur übrig geblieben sein mag. Im Laufe der Jahre erfuhr ich immer mehr über dieses dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte, das im innersten Kern ja auch ein Stück europäischer Geschichte in sich trägt, denn die Eroberer waren Europäer, wie man weiß. Ich erfuhr vom Untergang vieler Stämme und ihrer Kultur, aber auch vom Überleben indianischer Tradition und Weisheit in den Reservaten bis zum heutigen Tag.
Dass es nun im Jahr 2019 eine Ausstellung über die Kunst der Indianer im wohl renommiertesten Kunstmuseum der USA gibt, ist aus meiner Sicht ein erster, seit Jahrzehnten längst überfälliger Schritt hin zu historischer (Selbst)Erkenntnis. Dass sie – wie von indianischer Seite wohl zurecht kritisiert wird – von einem weißen Kurator ohne Einbeziehung indianischer Vertreter konzipiert wurde, zeigt, dass der lebensalltägliche praktisch wirksame Respekt vor dieser Kultur noch immer nicht dort angekommen ist, wo er hingehört. Wie die Ausstellung wohl ausgesehen hätte, wenn sie in einer Kooperation entstanden wäre?
Was sie zeigt, ist dennoch sehenswert. Im „American Wing“ des Museums sind Werke der Native Americans in einer enormen Bandbreite ausgestellt – vom meisterhaften Handwerk der Alltagskunst bis hin zu rituellen Masken und Kultgegenständen. Die Schönheit und Sorgfalt, mit der alles, vor allem auch die Alltagsgegenstände, liebevoll und kunstfertig hergestellt wurden – Körbe, Köcher, Schuhe, Jacken, Kleider, Tragegestelle für Babys – ist eindrucksvoll und geht nah. Denn sie ist Ausdruck eines Verhältnisses nicht nur zur Natur, sondern auch zur Zeit und zum Leben, das uns in der zivilisierten hektischen Welt des 21. Jahrhunderts weitgehend abhanden gekommen ist.
Die Ausstellungsstücke sprechen für sich. Zugleich empfand ich die erläuternden Texttafeln hier sehr aufschlussreich, denn sie brachten den Respekt vor der Resistenz und Resilienz der nordamerikanischen Indianer im Kampf um den Erhalt ihrer Lebensräume und ihrer Kultur an dieser Stelle explizit zum Ausdruck. Eine Kultur, die sich die Erde nicht untertan machen wollte, sondern sich selbst als Teil dieser Erde verstand. Der hemmungs- und besinnungsloser Raubbau fernlag. Das Abschießen von abertausenden von Büffeln zum puren Spaß war der Vorbote für den Untergang ihrer eigenen bisherigen Lebensweise.
So hatte ich, während auf dem UN Klimagipfel debattiert, wütend gestritten, und um Argumente und Geld gerungen wurde, das Klimathema auf ganz andere Weise anschaulich und positiv vor Augen – am Beispiel einer beinahe untergegangen Kultur, die dem Planeten Erde das entgegenbrachte, was er heute mehr denn je braucht: Wertschätzung und Respekt.
Insofern werte ich diese Ausstellung trotz der erwähnten Kritik als einen späten, aber dennoch guten Anfang, als Zeichen von Wahrnehmung und Wertschätzung. Vielleicht wird es in zehn oder zwanzig Jahren eine gemeinsam kuratierte Ausstellung im Hauptgebäude des „Metropolitan Museum of Art“ geben, die dann von einer sehr viel größeren Zahl an Menschen besucht und wahrgenommen wird? Ich würde sie mir auf jeden Fall sehr gerne anschauen.
Um Missverständnissen zuvorzukommen: Natürlich sind auch die Indianer keine besseren Menschen gewesen. Das Idealbild des „edlen Wilden“ wie er von Karl May in der Figur des Winnetou erfunden wurde, möchte ich hier nicht bedienen. Aber in der Betrachtung ihrer Kunst und Kultur steckt aus meiner Sicht dennoch ein wertvoller Ansatz für unseren heutigen Umgang als Spezies mit dieser Erde, auf der und von der wir leben: das eigenverantwortliche, bewusste Handeln und Gestalten von Leben auf der Grundlage von Einsichten in die ursprünglichen Zusammenhänge unseres Daseins auf diesem Planeten.
Das so wichtige Klimathema, der Respekt vor unserer Erde und der Zukunft der kommenden Generationen, erfährt aus meiner Sicht in diesen Tagen endlich die Aufmerksamkeit, die ihm in den Industriegesellschaften seit mehr als einhundertfünfzig Jahren immer mehr verloren gegangen ist. Durch die schlichte Erkenntnis, dass wir nicht die Herren des Ökosystems sind, sondern einfach nur ein Teil desselben.
„Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“ (Weisheit der Cree). Dieser ikonische Gedanke uramerikanischer Weisheit wird durch die Kunst der Native Americans positiv erlebbar. Respekt.
Einige Bilder aus dieser Ausstellung finden Sie hier:
Sie kennen TED noch nicht? Der Name steht als Abkürzung für „Technology- Entertainment-Design“. Es begann in den 80er Jahren mit einer alljährlichen Innovationskonferenz in Kalifornien. Seit im Jahr 2002 Chris Anderson, vormaliger Chefredakteur des Magazins WIRED, die Leitung übernahm, entwickelte sich TED kontinuierlich weiter. Seit vielen Jahren werden die besten Vorträge auf der „TED-Talks“-Website veröffentlicht und erreichen auf diesem Weg Millionen von Menschen auf der ganzen Welt – kostenfrei, versteht sich.
Immer wieder sehe ich mir hier Vorträge zu unterschiedlichsten Themen an – die Bandbreite ist einfach faszinierend. Auch Stefan Sagmeister, der das OUBEY MINDKISS Buch gestaltet hat, trat bereits mehrfach auf TED-Konferenzen auf und sprach dort z.B. einmal über die Frage, ob Design glücklich machen kann. Und über Glück im Zusammenhang mit TED möchte ich heute sprechen.
Denn TED ist durch und durch positiv. Die Geschichten, die erzählt werden, sind zwar manchmal durchaus existenziell und dramatisch. Doch sie enden nie in einer Ausweglosigkeit. Sie zeigen immer einen Weg, eine Idee, durch die ein Problem gelöst oder eine Frage beantwortet werden konnte.
Das finde ich wohltuend und erfrischend. Denn wir werden tagtäglich mit so vielen schlechten Nachrichten und Problemen dieser Welt konfrontiert, dass man meinen könnte, alles werde immer schlimmer. Das liegt nicht zuletzt an einer der Grundregeln von Medienkommunikation, die besagt: Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten. Schaltet man den Fernseher oder das Radio ein, um Nachrichten zu sehen oder zu hören, dann entsteht leicht der Eindruck, dass es kontinuierlich bergab geht mit der Welt.
Ist das die Wahrheit? Ist das die Realität? Ganz bestimmt nicht. Dennoch denken viele Menschen so. Der Blick auf das Positive, das Ermutigende, erscheint ihnen als Verleugnung der Realität. Und so haben viele Menschen den Eindruck, dass die Dunkelheit in der Welt wächst.
Natürlich geschieht viel zu viel Schreckliches und es gibt jede Menge Probleme. Aber es geschieht jeden Tag mindestens ebenso viel Gutes und täglich werden Probleme gelöst oder es wird zumindest an deren Lösung gearbeitet. Auch das ist Realität, wenngleich darüber nicht oder nur wenig berichtet wird.
Entwicklung braucht positive Impulse. Positive Impulse inspirieren uns, ermutigen uns, spornen uns an. Sie setzen Kräfte frei. Genau das tun die „TED-Talks“, wenn man erfährt mit wieviel Erfindungsreichtum, Intelligenz und Mut Menschen eine schwierige oder sogar ausweglos scheinende Situation gemeistert haben. Wir lernen ganz normale und doch zugleich erstaunliche Menschen kennen, die uns ein Beispiel sein können. Vielleicht inspiriert uns ein Ex-Präsident der USA. Oder ein Künstler, der über Glück spricht. Mich beeindruckte ganz besonders ein kleiner afrikanischer Junge, der die Viehherde seines Dorfes vor den um sich greifenden nächtlichen Überfällen durch Löwen schützen wollte, ohne die Raubtiere zu töten. Er kam auf die Idee eine Lichtanlage zu bauen, die sich in der Nacht einschaltet, wenn die Löwen sich nähern und sie vertreibt. Er setzte diese Idee in die Tat um und es funktionierte. Und er zeigte den Erwachsenen seines Dorfes, dass man nicht unbedingt schießen und töten muss, um sich zu schützen. Deshalb hat mich diese Geschichte besonders beeindruckt. Denn diese Wirkung war genauso wichtig wie der Schutz der Herde, denn sie führte zu einem neuen Denken im Dorf. Man muss nicht mächtig oder reich sein, um etwas positiv zu verändern. Man muss nur die Idee haben und die Fähigkeit sowie den Mut, sie auch umzusetzen – und sei es mit den einfachsten Mitteln.
„Ideas Worth Spreading“ lautet der Untertitel der TED-Talks – Ideen, die es wert sind, verbreitet zu werden. Ich finde, von solchen Ideen kann es gar nicht genug geben. Und man braucht für ihre Verbreitung auch nicht unbedingt eine Internetplattform. Allerdings ist TED ja auch selbst ein wunderbares Beispiel einer guten und innovativen Idee, die dazu beiträgt, die Welt ein wenig besser zu machen, indem sie dem Positiven einen Raum und eine Stimme gibt. Vielleicht sind Sie neugierig geworden und schauen mal rein – so wie ich vor vielen Jahren, nachdem ich zum ersten Mal davon gehört hatte? Es würde mich freuen.
Auch die Zahlen zeigen, dass meine Beobachtung in Paris keine Ausnahme mehr ist: In der Juni-Ausgabe von brandeins können Sie nachlesen, dass 40% der britischen Millennials ihren Urlaubsort danach auswählen, wie gut er sich auf Instagram präsentieren lässt – natürlich am besten immer zusammen mit einem Portrait von sich selbst
Das Phänomen des Sightseeing-Tourismus mit der dazugehörenden Fotografiersucht ist nicht neu. Je weniger Zeit ich habe, um einen Ort wirklich zu erleben und kennenzulernen, desto wichtiger ist es, wenigstens im Foto festzuhalten, dass ich tatsächlich dort war. Doch die rasant steigende Zahl an Selfies, die in den sozialen Medien veröffentlicht werden, ist für mich Ausdruck einer neuen Qualität des Umgangs mit der Wirklichkeit, dem Leben und sich selbst.
Sie erinnert mich an die Geschichte von Narziss, dessen Eitelkeit damit bestraft wurde, dass er sein Spiegelbild in einer Wasseroberfläche sieht und sich so sehr in dieses Bild verliebt, dass er gar nicht genug vom Anblick seines Antlitzes bekommen kann – ohne je zu wissen, dass es sein eigenes Spiegelbild, d.h.er selbst ist, in den er sich verliebt hat. Das ist die Strafe. Wahrscheinlich weiß kaum noch jemand, dass Selbstverliebtheit in der Antike als Strafe galt. Nemesis – oder nach anderen Quellen Artemis – verdammte Narziss zu dieser unstillbaren Liebe zu seinem Spiegelbild.
Die alten Griechen sind uns in manchen ihrer Erkenntnisse bis heute mindestens ebenbürtig. In dieser sind sie uns vielleicht sogar überlegen. Denn auf die Idee, dass Eitelkeit mit Selbstverliebtheit bestraft wird, käme heute wohl niemand mehr. Umso interessanter finde ich diese antike Geschichte, wenn ich über die Selfie-Manie unserer Tage nachdenke.
Im Falle der Selfies benutzen wir die Kamera quasi als Spiegel, in dem wir uns selbst sehen. Dabei sollte sie, wie Wim Wenders es so schön gesagt hat, ein Auge sein, durch das ein Mensch die Welt sieht.
Nur gehen wir noch weiter: Wir wollen uns nicht nur ständig selbst sehen, wir teilen diese Bilder von uns auch pausenlos mit der ganzen Welt. Der Blick auf die Welt rückt dabei in den Hintergrund, denn die Welt bin ich. Und sie ist besonders schön, wenn ich von möglichst vielen anderen gesehen werde, die mir möglichst viele Likes schenken, versteht sich.
Natürlich kann das jeder so machen, wie er möchte. Aber ich frage mich schon, was der Bedeutungsrahmen dieser Selfie-Kultur ist.
„In der Zukunft wird jeder einmal für 15 Minuten lang berühmt sein.“, sagte Andy Warhol in den 1960er Jahren voraus. Er hatte damals bereits erkannt, dass wir uns in ein Medienzeitalter hineinbewegen, in dem jeder sich wie ein Star fühlen kann, nur weil er mal kurz im Fernsehen zu sehen ist. Heute spielt das Fernsehen hierbei zwar auch immer noch eine gewisse Rolle. Doch durch das Internet kann heute jeder allen auf der ganzen Welt jederzeit mitteilen: Schaut her, wie toll ich bin und was ich alles Tolles mache.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich finde es großartig, dass heute jeder seine Ideen in Blogs oder Podcasts und Videos auf YouTube oder anderen Plattformen teilen kann. Davon profitieren insbesondere viele junge Menschen, die künstlerisch, technisch oder praktisch etwas drauf haben, was andere begeistert oder ihnen im Alltag konkret weiterhilft. Dieses ganze Wissen und Können blieb früher nur allzu oft im privaten Umfeld stecken, wurde von Verlagen und Agenturen einfach ignoriert und kam deshalb nie ans Licht der Öffentlichkeit. Gut, dass das heute anders ist!
Doch ob ich nun gerade irgendwo auf der Welt einen Latte Macchiato trinke oder Sushi esse – mal ehrlich: wer muss das denn wirklich wissen? Wen interessiert das? Die Nachwelt ganz sicher nicht. Wohl aber die, die genauso unterwegs sind und mit ihrem eigenen nächsten Selfie noch eins draufsetzen? So stellt die Überflussgesellschaft ihren Lebensstil ungebremst und selbstverliebt öffentlich zur Schau. Selbstverliebt ohne zu erkennen, dass sie nur sich selbst liebt. Narziss lässt grüßen.
Welche Motivation auch immer dahinter steckt – eines geht in der Selfie-Manie auf jeden Fall verloren: Der Genuss an der Vergänglichkeit des schönen Augenblicks und das Vertrauen darauf, dass das Beste immer nur das ist, was uns im Gedächtnis bleibt.
Schon immer haben Menschen ihre Erlebnisse, wichtige Ereignisse oder interessante Personen in Bildern festgehalten – angefangen von den großartigen Höhlenmalereien unserer Vorfahren vor mehr als 30.000 Jahren bis hin zu den Gemälden, Portraits und Zeichnungen eines Dürer, da Vinci, Brueghel, Bosch oder Goya. Bis dann vor rund 150 Jahren die Fotografie erstmals ganz neue Möglichkeiten eröffnete, die für uns heute längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind.
Doch wenn Menschen heute einen großen Teil ihrer Lebenszeit damit verbringen, sich selbst optimal in Szene zu setzen und das beste Selfie-Motiv zu finden, und wenn ihr Blick sich nur noch selten vom Display ihres Smartphones löst, dann geht ihnen die Freiheit verloren, diesen Moment einfach nur zweckfrei und intensiv zu erleben. Vereinfacht gesagt, schlägt dann das Digitale das Analoge.
Ich finde, dass wir die Möglichkeiten des Internets und der Digitalisierung bewusst und gezielt nutzen sollen. Ich glaube aber auch, dass wir – je mehr wir in die digitalisierte Wirklichkeit hineinwachsen, ein ebenso großes Bedürfnis nach Erlebnissen in der analogen Welt entwickeln. Und ich habe den Eindruck, dass die Lust auf das Original, auf das Authentische grundsätzlich wieder wächst. Das macht mich hoffnungsfroh – auch in Zeiten der Selfie-Manie.
Ich jedenfalls hatte diesen Traum in den Weltraum zu fliegen schon als Kind. „Peterchens Mondfahrt“ war mein Lieblingsmärchen. Wie Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt war ich später dann ebenso fasziniert wie berührt von der legendären Aufnahme, die William Anders aus der Apollo 8 heraus machte: Die strahlend blaue Erdkugel, frei im Dunkel des Weltraums schwebend. Und durch die Begegnung mit OUBEY entdeckte ich auch mein Interesse an der Science-Fiction mit ihren fantastischen Geschichten über menschliche Expeditionen in die Weiten des Alls, wie sie beispielsweise Perry Rhodan als Held der einzigartigen gleichnamigen Serie erlebt. Kennen auch Sie diese Sehnsucht?
Auch wenn wir heute enorm viel über das Universum, seine Struktur und seine Entstehungsgeschichte wissen und erklären können, bleibt der Blick hinauf in den Nachthimmel zum Mond und den Sternen doch noch immer etwas Wunderbares, das wir in seiner Größe und Bedeutung nicht wirklich verstehen, das uns zugleich aber anzieht und beschäftigt wie wenig anderes. An Orten wie Ayers Rock in Australien, an denen es meilenweit kein elektrisches Licht gibt, erstrahlt der Nachthimmel in einem ganz besonders intensiven Glanz. Menschen, die dort eine Nacht verbracht haben, berichten, dass dieses Erlebnis ihre Seele tief berührt hat.
In solchen Momenten spüren wir unsere tiefe Verbindung zum Weltall. Der Anblick allein eröffnet uns Zugang zu dem unbewussten Wissen, dass wir dort herkommen und dort wieder hingehen. Jeder Astronaut, der im Weltall war, sagt, dass er verändert wieder zurückgekommen ist.
Und natürlich ist da auch die Neugier, unbekannte Welten zu entdecken und zu erobern, Grenzen zu erproben und zu überschreiten – im Kopf wie auch in der Realität. Die Erde tatsächlich zu verlassen, um auf dem Mond oder einem anderen Planeten zu landen, wurde spätestens seit Jules Verne zu einer so starken Idee, dass sie nur hundert Jahre später von Menschen tatsächlich realisiert wurde. Eigentlich kaum zu glauben, aber doch wahr.
So wie die Entdecker und Abenteurer einst die heimischen Häfen Europas verließen, um in die Neue Welt überzusetzen, so verlassen Menschen in der Zukunft vielleicht ihren Heimatplaneten ganz, um ein neues Zuhause im Weltall zu finden.
Die Besiedlung des Weltraums – eine aufregende Idee, die auch OUBEY bereits während seines Architekturstudiums im Rahmen eines Projekts zur „Gestaltung Prototypischer Raumkolonien“ beschäftigte. Technische, architektonische, biologisch-ökologische und psychologisch-soziale Fragen wurden auf wissenschaftlichem Niveau bearbeitet und, im Rahmen der Möglichkeiten, beantwortet. Die Projektdokumentation ist heute noch interessant zu lesen.
Ein Gedanke dahinter war der: „Durch einen glücklichen Zufall hat es uns wie auch vielfältigstes Leben anderer Art hierher geweht. Wir Menschen haben als Spezies auf dieser Erde im Laufe der Evolutionsgeschichte eine sehr erstaunliche Entwicklung genommen. Dabei haben wir uns vor allem in den letzten zweihundert Jahren geradezu rasant vermehrt und immer mehr Raum eingenommen. Das tut der Erde nicht gut. Deshalb sollten wir sie in Ruhe lassen und uns da draußen eine neue Heimat schaffen. Wie könnte oder sollte dieser neue Raum aussehen?“
Was für eine herausfordernde Aufgabenstellung, an der Ermöglichung dieser Ideen zu arbeiten.
Der Schritt von einer Raumfahrt, die ausschließlich ausgebildeten und ausgewählten Astronauten offensteht, hin zur Möglichkeit eines Weltraumtourismus steht uns nun jedenfalls schon mal sehr konkret bevor. So weit, so gut, so schön …?
Sehnsuchtsorte der Menschheit gibt es ja schon lange. Bis vor sieben oder acht Jahrzehnten waren vor allem die weit entfernt liegenden Sehnsuchtsorte nur für Menschen mit entsprechendem Vermögen erreichbar. Indem sich dann mit dem Aufkommen des Massentourismus immer mehr Menschen ihren Traum vom paradiesischen Urlaubsziel erfüllen konnten, trat umgekehrt ein Prozess der Zerstörung dieser einstigen Sehnsuchtsorte ein. Denn wenn jeder, der sich einen einsamen Palmenstrand wünscht, ihn auch bekommt, ist der Strand die längste Zeit einsam gewesen. Von anderen unerwünschten Nebenwirkungen einmal ganz abgesehen.
Ein Ausflug zur ISS wird erst einmal nur für Reiche möglich sein, die eine solche Ausgabe schmerzfrei entbehren können. Der Tourismus dorthin wird deshalb und aufgrund der Tatsache, dass die ISS nur einer sehr kleinen Zahl von Besuchern Raum bietet, begrenzt bleiben. Ob überhaupt und, wenn ja, wann diese Grenzen in Richtung eines Massentourismus gesprengt werden, ist nicht absehbar. Was passieren würde, wenn der Weltraumtourismus sich so entwickeln sollte, dass er für Normalverdiener erschwinglich wird, bleibt also erst mal eher Science-Fiction.
Die Fantasie lässt viele Szenarien zu. Würde uns ein Weltraum-Tourismus als Menschheit weiterbringen, indem wir unser Bewusstsein schärfen, die Zusammenhänge zwischen Kosmos, Erde und Mensch besser zu erkennen und uns in diesen Zusammenhängen neu einzuordnen? Oder würden wir als Touristen den Weltraum genauso behandeln, wie wir es bisher mit den Sehnsuchtsorten und Sehenswürdigkeiten auf dieser Erde getan haben?
Die Lust an hemmungsloser Expansion in diesem Sektor nimmt auf der Erde immer noch zu und hat mit den gigantischen Kreuzfahrtschiffen, die seit einigen Jahren beispielsweise täglich die Lagune von Venedig okkupieren, einen nächsten Höhepunkt erreicht. Tausende von Menschen werden entladen, fallen einen halben Tag über die Stadt her und wenn alle am Abend wieder an Bord sind, geht es weiter zum nächsten Station. Wer die Bilder gesehen hat, weiß, wovon ich spreche.
Ich bin und bleibe begeistert von der Erforschung des Weltraums durch Astronomen und Astronauten, die zugleich Experten unterschiedlichster Wissenschaftsrichtungen sind. Ich finde die Idee einer Besiedlung anderer Planeten in künstlich angelegten Weltraumkolonien nach wie vor faszinierend. Die Fortschritte bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz eröffnet hier ganz neue Perspektiven, die bis vor zehn oder zwanzig Jahren nur als Science-Fiction vorstellbar waren, nicht aber als immer realistischer werdende Option. Doch ich bin auch skeptisch, wenn ich an mögliche Begleiterscheinungen und Konsequenzen denke, die hierbei durch die bekannten Verhaltensmuster und Einstellungen unserer Gattung hervorgerufen werden können. Sind wir in der Lage, diese selbst erstellte Herausforderung nicht nur technisch und physisch zu meistern, sondern auch ethisch?
Was meinen Sie?
Dabei geht doch nichts über eine gute Frage, denn jeder Lern- und Erkenntnisprozess beginnt mit der Neugier, aus der eine Frage entsteht, die nach einer Antwort sucht.
Das wusste bereits Sokrates, der im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung seine philosophische Schule gründete und seine Studenten lehrte, kluge Fragen zu stellen. „ Ich weiß, dass ich nicht weiß“ heißt sein berühmter Ausspruch, mit dem er alles hinterfragte, was allgemein als Wissen und selbstverständlich galt.
Für ihn war klar, dass wirkliche Weisheit nur Derjenige erlangt, der sich mit Demut und Neugier in die Welt hinaus begibt. Wer fragt und hinterfragt, der kann zu echten Erkenntnissen kommen. Deshalb ist die Ausgangslage des „Nicht-Wissens“ einer der Grundpfeiler seiner Denkschule.
Ich bin überzeugt, dass Sokrates Recht hat. Die Fülle der ungelösten Fragen dieser Welt und des Universums, dessen Teil wir sind, ist so groß, dass jede neu gefundene Antwort auf eine Frage bereits eine nächste Frage auslöst. So geht das jedenfalls den forschenden Wissenschaftlern, denen wir einiges an Erkenntnissen und Entwicklungen verdanken. Zu glauben, ein Einzelner könne auf alles eine Antwort haben, begrenzt den Horizont der Fragen auf ein überschaubares Feld. Wer glaubt, dass es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt, hört auf, die Welt zu entdecken und dabei auch sich selbst zu erkennen. Er bleibt stehen und hört damit auf, sich weiterzuentwickeln.
Leben bedeutet aber Bewegung und Vielfalt. Und ist nicht genau dafür die Kunst des Fragens ein elementares und zutiefst kluges Werkzeug für unser Leben? Neugier ist ein Schlüssel, um die Tore zu einer Welt der Vielfalt aufzuschließen.
Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Kunst kann dieses Fragen, Staunen und Entdecken auslösen. OUBEY war der Kunst ebenso verbunden wie der Wissenschaft. Er war ein fragender, forschender Künstler. Seine Bilder stellen Fragen, sie geben aber auch Antworten, die ihrerseits zu neuen Fragen führen. Das macht sie so spannend.
Dass OUBEYs Bilder diese Qualität haben, konnte ich in den Encounters immer wieder erleben. Die Betrachter stehen nachdenklich, fasziniert, überrascht und mit fragendem Blick vor seinen Werken. Sie begeben sich auf eine Entdeckungsreise in die Bilder hinein. Voller Neugier lassen sie sich auf die Fragen ein, die die Bilder in ihnen auslösen. Und suchen, emotional berührt, in ihrem Inneren nach Antworten.
Was beim Betrachten von OUBEYs Bildern nicht hilft, ist ein scheinbar allwissender Gelehrter, der sie auf eine Erklärung reduziert.. Sie brauchen einen weiten, offenen Raum der Begegnung mit Menschen und mit der Welt. Dann kommen die Fragen und die Antworten auf die Fragen wie von selbst. Aus dem Innersten der Betrachter.
Ludmilla Larusso, inzwischen über 50, wirkte jung, als sie da auf der Bühne stand und sang. Wie kann das sein? Es war Ihre Ausstrahlung, ihre Stimme, vor allem aber auch ihre spürbare Freude und Begeisterung an dem, was sie tut. Dagegen sieht manch einer, obwohl er um einige Jahrzehnte jünger ist als sie, regelrecht „alt“ aus. Wie kann das sein?
Für mich hat Alter nicht allein mit der Summe an Lebensjahren zu tun. Die Frage nach dem Alter ist eher eine Frage der inneren Einstellung. Und ist diese Einstellung von Neugier und Unternehmungslust geprägt, von dem Gedanken, dass es nie zu spät ist, etwas Neues zu entdecken, dann entsteht eine Energie, die den Menschen jung macht – ob er nun 15 ist oder 50.
Und was ist mit den biologischen Hardfacts? – werden Sie vielleicht zurecht fragen. Klar, spielen auch die eine Rolle und manches kann man mit steigender Lebenszeit nicht mehr so gut wie das mit zwanzig oder dreißig noch der Fall war. Aber glücklicherweise sind wir Menschen ja Individuen und als solche fähig, der puren Biologie mit einer inneren Einstellung zu begegnen, die dazu führt, dass unsere Leben eben nicht mit 50 oder 70 Jahren vorbei sein muss.
Es gibt Menschen, die – obwohl noch jung an Jahren – ihr Leben bereits bis zur Rente im Kopf durchgeplant haben und alles, was nicht in diesen Plan passt, ignorieren. Das ist doch zielstrebig und ganz vernünftig, meinen Sie? Das sollte man doch nicht kritisieren?
Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich kritisiere das nicht. Jeder kann und soll so leben wie es ihn zufrieden macht und wie er es für richtig hält, solange er anderen Menschen dabei nicht schadet. Ich denke allerdings, dass man sich auf diese Weise selbst um einige schöne Möglichkeiten bringen kann, die das Leben lebendig und überraschend machen. Was bleibt, sind dann oft nur die Überraschungen, mit denen das Leben uns konfrontiert und auf die wir dann oft hilflos reagieren, weil sie den einst gefassten Plan über den Haufen werfen.
Neues zu versuchen und sich selbst zu überraschen ist für mich eine wichtige Konstante im Leben. Natürlich immer erst einmal prüfen, ob man sich etwas tatsächlich zutraut bzw. ob man etwas wirklich will. Aber wenn das der Fall ist, dann sollte man es einfach versuchen. Wenn es misslingt, dann hat man es wenigstens versucht. Ich möchte mich am Ende meines Lebens möglichst nicht fragen müssen, warum ich die schönen Möglichkeiten, die sich mir geboten haben, nicht genutzt habe. Deshalb habe ich mir immer die Freiheit geschenkt, Neues anzupacken, wenn sich eine passende Möglichkeit ergab, und habe es bis heute nie bereut.
Und ich mag Menschen, die das auch tun. Ein Künstler muss gewissermaßen mit jedem Bild „neu anfangen“. Manche malen zwar ganze Serien, aber dennoch ruft eine leere Leinwand immer wieder zu etwas Neuem auf. Das habe ich im Zusammenleben mit OUBEY über einundzwanzig Jahre aus nächster Nähe miterlebt. Wenn OUBEY nicht bereit und in der Lage gewesen wäre, immer wieder ganz neue Wege zu gehen als Künstler, wäre das Werk, das er hinterlassen hat, nicht so interessant und vielfältig wie es ist und würde heute gewiss nicht so viele Menschen auf der ganzen Welt faszinieren und begeistern. Bei ihm rief jede Antwort die nächste Frage hervor. In der Kindheit verhalten sich fast alle Menschen so. Wenn sie erwachsen werden, lässt das oft nach, weil sie glauben, alle Antworten zu kennen – zumindest die wichtigen. Das ist ein Irrtum. Denn niemand kennt jemals alle Antworten. Staunen und Entdecken ist ebenso wichtig wie Wissen.
So kommt es, dass eine Ludmilla Larusso bei „The Voice of Germany“ nicht nur das begeisterte Publikum in Erstaunen versetzte, sondern auch die aufmerksamen Coaches. Vielleicht hat es geholfen, dass sie bei dieser Show mit dem Rücken zur Bühne sitzen und nicht sehen, wie alt oder jung, groß oder klein, dick oder dünn, hübsch oder weniger hübsch ein Kandidat ist. Sie wissen nicht wie dieser Mensch aussieht, sie hören nur den Gesang. Und mit ihrem Gesang erreichte Ludmilla die Herzen. Ein schönes Beispiel für die Richtigkeit dessen, was Antoine de Saint-Exupéry einmal sagte: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Alter ist nicht das Ergebnis einer Rechenaufgabe. Alter ist eine Frage der Lebendigkeit, Offenheit und Neugier – im Herzen und im Kopf. Es ist immer möglich, noch etwas dazu zu lernen, zu erleben, zu entdecken. Neugier ist ein Elixier, das Lust aufs Leben macht und deshalb jung hält.
Diesem Prinzip folgen die Baurichtlinien in Alpbach und genau dadurch unterscheidet sich der Ort von allen anderen Dörfern Österreichs. Das ist paradox: Denn durch die strikt angeordnete Gleichheit der Fassaden wird der Ort zu etwas Besonderem. Alpbach ist anders, weil alles dort gleich ist. Diese Einzigartigkeit hat den Ort berühmt gemacht hat und lockt jede Menge Besucher an.
Aber wo bleibt das Individuelle in dieser unwirklichen äußerlichen Schönheit? Die Individualität der Menschen, die in diesen Häusern leben, spielt sich ausschließlich hinter den Kulissen ab. Eine seltsame Welt, die mich irgendwie an die Künstlichkeit der Kulissen von Disneyland erinnerte.
Als ich dann über den kleinen Friedhof des Ortes spazierte, konnte ich kaum glauben was ich sah. Er gleicht einem Wald aus kunstvoll gefertigten schmiedeeisernen Grabmälern, von denen eins so aussieht wie das andere. Alle gleich hoch und gleich breit – nur die Namen und Fotos der Verstorbenen machen einen Unterschied. Gleichheit nach außen bis in den Tod.
Doch dann kam ich an ein Grabmal, das den anderen zwar ähnlich, aber doch nicht gleich war. Es war das Grabmal des österreichischen Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger, einem der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, von dessen geistiger Leistung sowohl OUBEY als auch ich schon immer sehr beeindruckt und begeistert waren. An diesem Ort zu sehen, dass man doch immerhin der genialen Ausnahmeerscheinung eines Erwin Schrödinger Respekt zollt, indem man seiner Grabstätte ein Abweichen vom Immergleichen zugesteht, hat mich ein wenig beruhigt. Für einen wie ihn hatte man selbst in Alpbach eine Ausnahme gemacht. Schönheit war in diesem Augenblick für mich der Ausblick auf die Möglichkeit von Individualität.
Äußere Gleichförmigkeit kann als schön empfunden werden, sie kann aber auch unschöne oder sogar hässliche Gestalt annehmen. Verglichen mit den deprimierenden Fassaden vieler moderner Wohn- und Zweckbauten in Großstädten wirkt die äußerliche Gleichheit der Häuser von Alpbach geradezu wie eine beglückende Wohltat fürs Auge. Umgekehrt wird etwas nicht automatisch schön, nur weil es individuell ist oder von der Norm abweicht.
Was also ist Schönheit? Diese Frage haben sich klügere Menschen als ich schon zu allen Zeiten gestellt. Aspekte von Schönheit werden durch die Ästhetik, durch Naturwissenschaft und Geometrie und auch durch manche Erkenntnisse der Psychologie definiert. Was ein Mensch subjektiv als schön empfindet, folgt wohl immer auch ein Stück weit diesen Definitionen, ist dabei aber auch immer subjektiv. Was der eine schön findet, findet der andere möglicherweise alles andere als schön. Das ist gut so. Denn es ist Ausdruck menschlicher Individualität.
Auf dem Friedhof in Alpbach beugte sich das Prinzip der absoluten Gleichheit dem Respekt vor der genialen Individualität eines einzelnen Menschen und machte für ihn eine Ausnahme. Genau das hat mir in diesem Moment wieder einmal klar gemacht, dass der Respekt vor dem Individuum die Voraussetzung dafür ist, dass eine Schönheit entstehen kann, die auf Vielfalt basiert. Und dieser Respekt gebührt selbstverständlich jedem Menschen und nicht nur einem weltberühmten Nobelpreisträger.
Wenn Architekten, Städtebauplaner, Landschaftsgestalter und Designer aller Art sich diesen Grundsatz zu Eigen machen würden anstatt nackte Funktionalität und minimale Kosten bei maximaler Effizienz zu verfolgen, wäre die Lebensumgebung vieler Menschen heute mit Sicherheit zumindest weniger unschön als dies derzeit der Fall ist.
Der großartige Designkünstler Stefan Sagmeister, der übrigens auch das preisgekrönte MINDKISS Buch über OUBEYs Kunst gestaltet hat, eröffnet demnächst in Wien eine Ausstellung zum Thema „Beauty“. Die werde ich mir auf jeden Fall anschauen. Vielleicht komme ich dort zu neuen Erkenntnissen, die ich an dann gerne im Social Web oder an dieser Stelle wieder mit Ihnen teile.
Als ich dann vor der Aufgabe stand, sein bis dahin verborgen gebliebenes Vermächtnis an die Öffentlichkeit zu bringen, war das für mich zunächst eine schwierige Situation, denn ich wollte auf keinen Fall in die Rolle kommen, nun diejenige sein, die sich zu seinem Werk äußert und den Eindruck erweckt, als könne sie seine Bilder erklären. Und natürlich wollte ich in OUBEYs Sinne handeln und seiner Haltung treu bleiben. Also war ich nicht an Erklärungen interessiert. Vielmehr fragte ich mich, wie es gelingen könnte, seine Bilder in einen hochwertigen Prozess des Entdeckens aus vielfältigen und interessanten Perspektiven heraus zu bringen. Wäre hier die Meinung eines Kunstexperten oder eines anderen Künstlers hilfreich?
Meine Antwort auf diese Frage lautete: Nein! Stattdessen reiste ich mit den Bildern zu Personen, die sich professionell mit den gleichen Themen und Fragen auseinandersetzen wie OUBEY: Astronomen, Astrophysiker, Biologen, Mathematiker, Quanten- und Komplexitätsforscher, Musiker, Philosophen und Komponisten. Mit den Erkenntnissen dieser Wissenschaften hatte auch OUBEY sich zeit seines Lebens auf sehr hohem Niveau auseinandersetzt. Im Laufe der Begegnungen zeigte sich, wie richtig meine Entscheidung für diesen Weg gewesen war.
„Ich muss Sie warnen: Ich habe keine Ahnung von Kunst!“ war oft die erste Aussage, bevor jemand sich auf das „Encounter“-Erlebnis mit einem bis dahin unbekannten Bild von OUBEY vor laufender Kamera einließ. Meine ehrliche Antwort in diesen Fällen war jedes Mal dieselbe: „Wunderbar! Genau deshalb bin ich heute mit diesem Bild hier bei Ihnen.“
„Unmittelbarkeit ist für meine Bilder das Entscheidende“, meinte OUBEY einmal. Unmittelbarkeit entsteht in der direkten, ungefilterten, emotionalen Begegnung zwischen Bild und Betrachter. Genau das kennzeichnet die „Encounters“ mit OUBEY, die als Videodokumentationen online zu sehen sind. Sie zeigen ein ungewöhnliches, breites und enorm abwechslungsreiches Spektrum an ebenso fundierter wie spontaner Resonanz – frei von jeglichem Anspruch auf Kunstexpertise.
Wenn wir von Kunst reden, denken wir meist erst einmal an Malerei. Denken wir aber zum Beispiel mal an die Musik und die Möglichkeiten, die ein jeder Mensch heutzutage hat, Musik zu hören wann immer und wie oft er will. Das geht mit der Malerei so nicht. Ich kann mir zwar auch zuhause Bilder anschauen, die online stehen oder in Kunstbüchern abgebildet sind – doch beim Fahrradfahren, Walken oder anderen Aktivitäten kann ich sie nur schwerlich anschauen, Musik dagegen kann ich sehr wohl hören.
Musik erreicht die Menschen einfacher und direkter als jede andere Kunstart. Das gilt nicht nur für die medial vermittelte Musik. Auch Konzerte haben eine eigene Qualität und emotionale Dynamik, die sich von Kunstausstellungen deutlich unterscheidet. Auch im Musikbetrieb gibt es natürlich die Filterfunktion eines Expertentums ähnlich den Kunstexperten im Galeriebetrieb oder Kunsthandel.
Doch seit Menschen ihre musikalischen Präsentationen auf YouTube online stellen können, hat sich hier eine Freiheit, so etwas wie eine bis vor kurzem noch unbekannte Demokratisierung durchgesetzt. Jeder kann hochladen, jeder kann runterladen. Views, Likes, Shares und Downloads sind Ausdruck der unmittelbaren Reaktion auf das Gehörte bzw. Gesehene durch eine breite weltweite Öffentlichkeit.
Man könnte jetzt natürlich einwenden, das sei dann ja nur noch „Massengeschmack“. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass hinter jeder dieser Reaktionen ein Individuum steht, dem das, was es sieht hört oder sieht gefällt oder nicht gefällt. Das ist zwar so nicht einfach auf die Malerei übertragbar. Doch die Erfahrungen, die ich bisher mit der Nutzung des Internets zur Verbreitung von OUBEYs Kunst gemacht habe, bestätigen mich darin, diesen ungewöhnlichen und innovativen Weg weiter zu gehen und den so entstandenen Resonanzraum Schritt für Schritt zu erweiterten.
Selbstverständlich ist es gut und wichtig, dass auch Experten sich zu Wort melden, wenn es um Kunst geht. Es ist aber ebenso gut und wichtig, sich erst einmal seine eigene Meinung zu bilden. Umso interessanter ist es, sich später dann auch eine Expertenmeinung anzuhören und mit der eigenen Meinung abzugleichen. Oft genug haben übrigens ja auch verschiedene Experten sehr unterschiedliche Meinungen über dieselbe Sache.
Deshalb finde ich es gut, wenn Menschen sich im Museum die Zeit und die Freiheit nehmen, sich die Ausstellungsstücke in Ruhe anzuschauen und sich erst einmal selbst fragen „Welche Gedanken und Gefühle löst das Bild in mir aus? Was lese und erkenne ich selbst darin?“ Denn bei allen intellektuellen Überlegungen, die dabei auch eine Rolle spielen, ist es zu allererst immer eine Gefühlsreaktion, die uns mit einem Kunstwerk verbindet.
Die vor ca. 25 Jahren entdeckten, mehr als 30.000 Jahre alten Zeichnungen an den Wänden der Höhle von Chauvet in Südfrankfreich, die Werner Herzog uns in seinem Dokumentarfilm „Cave of Forgotten Dreams“ dankenswerterweise zugänglich gemacht hat, rufen beim Betrachten trotz des unglaublich großen zeitlichen Abstands zum Moment ihrer Entstehung ein aufregendes Erlebnis der Nähe hervor. Als würde man in schwindelerregender Höhe auf einer geistigen Hängeseilbrücke tiefe Schluchten der Zeit überqueren. Als ob die Grenzen der Zeit für den Moment ihres Anblicks aufgehoben wären.
Diese prähistorischen Wandmalereien stehen für sich selbst. Darin sind sie OUBEYs Kunst ähnlich und sind ihr auch in einem anderen Aspekt auf ganz eigene Weise verwandt: Sie sind verborgene, über eine gewisse Zeit hinweg unberührt und ungesehen gebliebene Schätze. Ihre Existenz im Verborgenen hat ihnen eine Freiheit geschenkt, wie sie heute kaum noch irgendwo zu finden ist. Diese Freiheit steckt in ihnen und überträgt sich auf uns, wenn wir sie anschauen. Wir können sie in selten reiner Unmittelbarkeit entdecken, genießen und auf uns wirken lassen.