Beispiele für die Gegenthese gab es schließlich zu allen Zeiten bis zum heutigen Tag mehr als genug.

OUBEY war bereits in jungen Jahren auf die Monadologie gestoßen und von der ihr zugrunde liegenden Metaphysik des Wilhelm Gottfried Leibniz fasziniert. Als Philosoph, Mathematiker, Physiker, Metaphysiker, Vordenker dessen was wir heute Computer nennen und einigem mehr gilt er vielen bis heute als letztes wirkliches Universalgenie.

Nicht dem gefeierten Newton, sondern dem lange Zeit verkannten Leibniz und dessen Monadologie widmete OUBEY deshalb eins seiner frühen Bilder und nannte es „Die Reise der Monaden“.

Dieses Bild begegnete und begeisterte in den vergangenen vier Monaten als Teil der „Art of Resonance Show“ im Mind Museum Manila so vielen Menschen wie nie zuvor. Das allein wäre Grund genug, die Monadologie von Leibniz noch einmal genauer zu studieren.

Dann las ich kürzlich einen Kommentar, der die These von der besten aller möglichen Welten zitierte, um sie ad absurdum zu führen angesichts der Abgründe, in die Menschen und Völker auch im 21. Jahrhundert stürzen als sei Geschichte nichts, woraus man etwas für die Zukunft lernen könnte, und mit dieser Begründung die Idee eines göttlichen Ursprungs dieser Welt gleich mit in Frage zu stellen.

Ich fühle mich keineswegs berufen, an dieser Stelle über die Existenz eines Gottes zu philosophieren. Doch so viel sei angemerkt, dass es auffällig ist, wie leicht uns die Unzulänglichkeit oder auch Nicht-Existenz eines Gottes in den Sinn kommt, wenn uns Schlimmes widerfährt – sei es individuell oder kollektiv, verursacht durch Naturgewalt oder durch die brutale Gewalt, die Menschen und ganze Völker anderen Menschen und anderen Völkern antun wie wir es auch in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts direkt oder indirekt erleben. Und dies ganz besonders dann, wenn selbst die barbarischsten Grausamkeiten ausgerechnet im Namen eines Gottes verübt werden.

Was OUBEY an der Leibniz´schen Monadologie faszinierte war weniger dessen damit verknüpfte Theodizee, sondern das ihr innewohnende Verständnis von der Freiheit, Einzigartigkeit und Unteilbarkeit einer jeden Monade, das heißt einer jeden Seele in diesem Universum. Kühn und selbst vielen heutigen Denkern immer noch weit voraus, gehörte für Leibniz nicht nur die eigene Spezies Mensch, sondern alles was im Universum existiert zu den beseelten Wesen.

Wobei der Mensch – so jedenfalls der bisherige Stand der Erkenntnis – als einzige Spezies auf diesem Planeten mit einem freien Willen ausgestattet ist, der über angeborenes Instinkt- und Gattungsverhalten hinausgeht und Entscheidungen ermöglicht wie sie kein anderes Wesen treffen kann. Und das, wenn es die Situation erfordert, auch entgegen eigener Instinkte und Triebe. Entscheidungen wie die, ob man einem anderen Menschen aus welchen Gründen auch immer zu schaden bereit ist, ob man einen oder gar viele Menschen zu töten bereit ist, oder ob man auf einen eigenen Vorteil zugunsten eines anderen Lebewesens zu verzichten in der Lage ist – nur einige wenige Beispiele für Entscheidungen des Willens.

Diese Welt ist nach Leibniz nicht deshalb die beste aller möglichen Welten, weil sie perfekt, das heißt vollkommen und in jeder Hinsicht fehlerfrei ist. Sondern weil sie den Menschen als einziges Gattungswesen auf dieser Welt mit einem freien Willen ausgestattet hat. Eine perfekte Welt und ein freier Wille ihrer Bewohner, sich für die eine oder andere Verhaltensweise zu entscheiden – das schließt sich aus. Auch über die Frage wie frei der menschliche Wille denn wirklich sei, wurde seit Zeiten gestritten.

Stellen wir uns einfach mal das Gegenteil vor: eine wirklich perfekte Welt. Wohl nicht erst seit Thomas Morus im Jahr 1516 sein philosophisches Traktat mit dem Titel „Utopia“ veröffentlichte, haben Menschen von einer perfekten Welt geträumt, einem Paradies auf Erden. Wie klug die Leibniz´sche Sicht auf Welt und Mensch war, erkennt man an den V ersuchen, derartige Utopien zu verwirklichen. Sowohl in Form kleiner, sektiererischer Gemeinschaften als auch in Form großer gesellschaftlicher Verwirklichungsversuche endeten alle mit einer größtmöglichen Unfreiheit des Einzelnen. Dass diese Systeme immer wieder von einzelnen verlassen oder im gesellschaftlichen Kollektiv überwunden werden, ist ein sehr beweisstarkes Zeugnis von der Kraft und Macht des freien Willens.

Für Leibniz gibt es keinen perfekten, idealen oder gar paradiesischen Urzustand dieser Welt und es gab ihn auch nie. Ganz im Unterschied zum Glauben daran, dass eine menschliche Sünde zum Grund für die Vertreibung aus solch einem einstigen Paradies wurde – quasi als Strafe – und dass seither jeder Mensch mit einer „Erbsünde“ geboren wird. Da gefällt mir die Idee eines Universums, das zugunsten der Freiheit menschliche Fehler und selbst Katastrophen und Verbrechen in Kauf nimmt, eindeutig besser. Beweisbar ist ohnehin weder das eine noch das andere.

Freiheit schafft Raum für Mögliches, fürs Überschreiten von Grenzen – im Denken wie im Tun, im Positiven wie im Negativen. Freiheit bedeutet aber immer auch Verantwortung. Jeder entscheidet jeden Tag, wie er seine Freiheit nutzt, um diese Welt einen besseren Ort werden zu lassen oder auch nicht, und trägt dafür die Verantwortung. Sei es im Kleinen, sei es im Großen.

In der „besten aller möglichen Welten“ ist die Freiheit eine Bedingung. Vermutlich war dies einer der Gründe, weshalb ein unbändiger Freigeist wie OUBEY dieser Idee von Leibniz ein Bild widmete. Und vielleicht lebt dieser Geist der Freiheit in diesem Bild so stark, dass es bis heute nahezu jeden Menschen, der es sieht, unmittelbar in seinen Bann zieht.

Wer mich und das MINDKISS Projekt kennt, der weiß: Mich interessieren nicht die besten Umschlagplätze für Kunst. Mich interessiert die Resonanz von Menschen in der Begegnung mit OUBEYs Kunst. Genau deshalb ist Manila mit seinem Mind Museum für mich interessant. Und die Erfahrung gibt mir Recht.

Hier können selbst die Security Guards der Anziehungskraft der ausgestellten Bilder und Installationen nicht widerstehen und nutzen ihre Pausen, um immer wieder in die präsentierten Bild- und Erlebniswelten der Show einzutauchen, die sie ja eigentlich nur zu beaufsichtigen und schützen haben. Was für eine wunderbare Resonanz! Es ist eine von vielen anderen wunderbaren Resonanzen, die auch weiterhin vom Museumsteam über die kommenden Monate hinweg gesammelt und ausgewertet werden. Wenn die Ausstellung schließt, werden wir einiges hiervon veröffentlichen.

Die Entscheidung für die Zusammenarbeit mit dem Mind Museum fiel mir leicht, nachdem ich dessen Direktorin im Oktober letzten Jahres zum ersten Mal persönlich getroffen hatte. Sie war sofort begeistert vom Ansatz und Spirit des MINDKISS Projekts. Und ich war überzeugt von der Ernsthaftigkeit Ihres Wunsches, die neu konzipierte „Art of Resonance Show“ des MINDKISS Projekts in den für temporäre Ausstellungen frei verfügbaren Räumen ihres Museums zu präsentieren.

Das Mind Museum ist das einzige Wissenschaftsmuseum auf den Philippinen und verdankt seine Existenz einer großen Stiftung, die zur Beschäftigung mit Kunst, aber insbesondere Kinder auch zur Beschäftigung mit Wissenschaft und Technologie anregen will. Ein Erlebnispark wie ich ihn bis dahin nur in San Francisco, in der Cité de la Science in Paris und im Deutschen Museum München kennengelernt habe.

Weshalb in aller Welt hätte ich also „nein“ sagen sollen, wenn ich eingeladen werde, genau dort die neu konzipierte Ausstellung des Projekts zu präsentieren, die den Brückenschlag nicht nur zwischen Wissenschaft, Technologie und Kunst herstellt, sondern auch zwischen analoger und digitaler Erlebniswelt von Kunst. An einem Ort, der sich dem Entdecken und Explorieren der Erkenntnisse widmet, die die Menschheit mittlerweile über das Universum, den Planeten Erde samt seiner Ozeane und dessen Bewohner, unsere eigene Spezies eingeschlossen, gewonnen haben.

Ein Ort, dem die Wertschätzung sogenannter Experten des etablierten Kunstbetriebs samt seiner Türsteher und Adressaten ebenso herzlich egal ist wie mir, der sich aber mit denselben Fragen und Themen beschäftigt, denen OUBEYs Kunst entsprungen ist. Ich hoffe, dass es einen solchen Ort nicht nur einmal auf dieser Welt in Manila gibt, sondern dass ich in den nächsten Jahren das Glück haben werde, die „Art of Resonance Show“ an ähnlich freie und spannende Orte in anderen Ländern und Kontinenten zu bringen. Die zu finden wird nicht einfach sein.

Im Fall der wunderbaren, kongenialen Zusammenarbeit in der Vorbereitung und Durchführung dieser Ausstellung hat dieses Glück einen Namen: den Namen der Direktorin Maria Isabel Garcia. Als ich bei einem Rundgang mit ihr durch die Show wenige Stunden vor der offiziellen Eröffnung zu ihr sagte wie froh ich über  das Zustandekommen dieser Zusammenarbeit bin, meinte sie:

„I am more than glad. If our foundation has a heart´s desire, this is the foundation´s heart´s desire“.

Weil das für uns beidseitig so war, seit wir uns im Oktober 2022 an einem frühen Morgen um 7 Uhr in einem Hotel in Berlin zum ersten Mal trafen, wurde aus diesem Herzenswunsch eine gemeinsame Reise mit dem Ziel, eine neuartige, einzigartige Erlebniswelt zu schaffen, in der nun bis zum 8. Oktober 2023 der MINDKISS von OUBEYs Kunst für jeden spürbar wird, der die „Art of Resonance Show besucht.

Ganz nebenbei bemerkt, handelt es sich bei dieser Ausstellung um eine dreifache Premiere:

Wenn auch ich diese neue Ausstellung heute hier in gewisser Weise feiere, dann vergesse ich natürlich nicht die früheren acht Stationen der Global Encounter Tour auf vier Kontinenten. Eine jede von ihnen war einzigartig in ihrer jeweils eigenen Resonanz auf OUBEYs Kunst. Von den Wissenschaftlern in einem Symposium des Goethe Instituts San Francisco und den Teilnehmern einer internationalen Management Konferenz in Wien über die Studenten der inzwischen von der ungarischen Regierung unter Orban geschlossenen CEU in Budapest bis hin zu den Kindern, Lehrern und Eltern einer Maori Schule in Wellington/Neuseeland und den Künstlern aus Uganda und Kenia an der NIAAD in Kampala.

Danach reiften in einer Projektpause die Ideen für ein ganz neues, erlebnisorientiertes interdisziplinäres Ausstellungskonzept heran. In den Jahren 2019 bis 2022 wurden sie Schritt für Schritt gestaltet und verwirklicht und werden nun alle gemeinsam erstmals öffentlich im Mind Museum präsentiert. Doch ohne all die früheren Begegnungen und Stationen wäre diese heutige Ausstellung niemals möglich geworden.

Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Menschen von Herzen danken, die es möglich gemacht haben, dass die bisherigen Stationen wie auch die fünfundzwanzig Encounters mit Wissenschaftlern und Einzelpersonen unterschiedlichster Professionen, zustande kamen. Der Fundus, aus dem das Projekt schöpfen kann, ist enorm gewachsen. Und die Entwicklung des „Expanding Universe of OUBEY MINDKISS“ geht weiter.

In seiner Eröffnungsrede nannte er dieses Museum „ein lebendiges Haus, das bewohnt wird und dessen Pforten den Völkern der ganzen Welt offenstehen, ein Ort, an dem sich jeder repräsentiert fühlen kann, weil die Kirche niemanden ausgrenzt, keine Ausnahmen macht.“ 

Ein Versuch der Aussöhnung mit der Geschichte 

Dass die katholische Kirche, die fürs Ausgrenzen seit Jahrhunderten bekannt ist, ein solches Signal sendet, überrascht. Dass sie dies unter ihrem derzeitigen Papst Franziskus tut, der seit Beginn seiner Amtszeit bereits für einige Überraschungen sorgte, verwundert weniger. Als erster Papst nichteuropäischer Herkunft, aus Südamerika stammend, ist ihm die frühe wie auch die heutige Kunst außereuropäischer Kulturen vertraut. 

Die frühen Hochkulturen der Mayas, Inkas und Azteken waren der europäischen Kultur über Jahrhunderte hinweg weit voraus. Bis ihre Heimat von den Europäern zunächst entdeckt und dann mit brutaler Gewalt in Besitz genommen wurde, damit einhergehend eine selbstherrliche Missionarisierung, die die ungläubigen Heiden zu vermeintlich besseren Menschen machen sollte. 

Dieser Teil der Kirchengeschichte, der zugleich auch ein Teil unserer westeuropäischen Geschichte ist, wurde in unseren Geschichtsbüchern jahrhundertelang als glorreiche Geschichte dargestellt. 

Insofern erkenne ich in dem Ansatz von Papst Franziskus eine gewisse Einsicht und vielleicht auch etwas, das man Demut nennen könnte: Die Korrektur einer ebenso überheblichen wie überholten Sichtweise nicht nur der katholischen Kirche, sondern der gesamten westlichen Welt. Ein Zeichen des Respekts gegenüber all den Völkern der Erde, die der Westen im Zuge der Kolonialisierung zum Zweck der wirtschaftlichen Ausbeutung wie auch der Unterwerfung im Namen und Interesse der Kirche als unterentwickelte primitive Völker betrachtete und dementsprechend behandelte. Ein Versuch des Zueinanderfindens in einem „lebendigen Haus“ der Versöhnung also?

Die Seele ist universal

Keiner weiß, wo die Seele im Menschen beheimatet ist. Sie ist kein physisches Organ, sondern geistiger Natur. Philosophen von Aristoteles bis Leibniz waren davon überzeugt, dass es sie gibt und dass sie nicht nur dem Menschen, sondern allem was lebt eigen ist. Dieser Überzeugung war auch OUBEY, zumal er sich mit beiden Philosophen intensiv beschäftigt hat. 

In seiner Kunst findet diese „Seele der Welt“, die ein Teil seines innersten Wesens war, ihren unmittelbaren Ausdruck. Und da diese Kunst frei ist von allen sprachlichen Grenzen, die uns Menschen oft voneinander trennen, wird sie erlebbar für Menschen unterschiedlichster Kulturen. Diese beglückende Erfahrung konnte ich auf meinen Reisen OUBEYs Bildern rund um den Globus immer wieder machen.

So zum Beispiel als Maori, denen ich in Neuseeland begegnete, beim ersten Anblick von OUBEYs Bildern spontan zu mir sagten: „Diese Bilder beginnen sofort mit Dir zu sprechen, sobald Du sie nur anschaust.“ 

In Momenten wie diesen wurde offensichtlich, dass OUBEYs Vision von der universalen Sprache seiner Bilder sich bewahrheitet, wenn man sie reisen lässt. Deshalb bin ich bis heute froh, dass ich 2010 erstmals meinen gelben Koffer packte, um mit OUBEYs Werken um die Welt zu reisen. So konnte ich die überwältigende Erfahrung machen, dass seine Kunst eine universale Bedeutung hat. Sie berührt die Menschen in ihrem Inneren, ob sie nun in Uganda oder in Neuseeland leben, ob sie nie zur Schule gegangen oder Wissenschaftler sind.

Wenn Kunst die Seele erreicht 

So fremd Kunst uns im ersten Moment manchmal vielleicht auch erscheinen mag, sie erreicht uns – und das nicht nur im Kopf. Dies gilt für alle Kunst, aber ganz besonders für die Kunst, die ohne Worte auskommt: Musik und Malerei. Und es gilt insbesondere auch für all die Gemälde und Sinfonien, auf die das Publikum seiner Zeit ignorant oder ablehnend reagierte, die inzwischen jedoch längst zum wertvollen Schätzen unseres Lebens wurden. 

Kunst ist Ausdruck der „Anima Mundi“ und belebt sie zugleich. Führt sie hinaus – zurück in alte und voran in neue Welten der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. So war es in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte und so ist es bis heute. Sie kann uns innere Erlebnisse schenken wie es außer ihr nur die Liebe kann. Sie weitet unsere Seele, öffnet unser Herz, kann Barrieren überwinden. 

In einer Zeit, in der wir zwar den Fall der Berliner Mauer feiern, zugleich aber ans Errichten neuer Grenzzäune und Mauern denken, ist dieser Gedanke mehr als nur ein weihnachtlicher. Ich höre die Botschaft in der Eröffnungsrede von Papst Franziskus und ich hoffe, sie zeigt Wirkung mit Konsequenz: „Kunst überwindet alle Barrieren“. Und dabei geht es vielleicht zu allererst um die Barrieren, die wir in uns selbst errichtet haben.

War jetzt alles vorbei? 

Nein. Bereits am Tag danach war für mich klar, dass sein Lebensende für mich den Beginn einer neuen, anderen gemeinsamen Zeit bedeutet. Ich akzeptierte OUBEYs Tod, aber ich akzeptierte nicht, dass sein Tod auch das Ende für seine Kunst bedeuten sollte. Doch wie und durch wen sollte sie weiterleben und wirken? Einen Künstler, den noch niemand kennt, der nicht mehr lebt, dessen Werk erst noch erschlossen werden muss nun posthum ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen – ohne die Bilder verkaufen zu wollen: Wer außer mir würde wohl bereit sein, das zu tun? Ich wartete nicht, bis sich vielleicht irgendwann jemand finden würde, der diese Aufgabe übernehmen will, sondern gab mir die Antwort selbst, indem ich mit der Arbeit begann. Auf welchen Weg mich diese ersten Schritte in der Zukunft noch führen würden, ahnte ich nicht einmal.

Durch Höhen und Tiefen

Im ersten Jahr durchlebte ich ein Wechselbad der Gefühle: Der Schock saß tief. Doch auf  Momente von großem Schmerz folgten immer länger werdende Phasen der Freude durch die Beschäftigung mit ihm und seiner Kunst. Und auch mit dem, was wir in unserer gemeinsamen Zeit getan und erlebt hatten. Doch selbst wenn man den Tod eines geliebten Menschen akzeptiert, braucht es viel Zeit und Seelenkraft, bis man tatsächlich begreift, dass dieser Mensch nie wieder durch die Tür treten wird. OUBEY war der Mensch, mit dem ich in der gemeinsamen Zeit, die uns vergönnt war, nahezu jeden Tag meines Lebens verbracht hatte und mit dem ich auf symbiotische Weise verbunden war. 

Dass ich nie mit dem Schicksal gehadert habe, nie die Frage stellte, warum er so jung und tragisch sterben musste, hat mir sehr geholfen. Denn diese Frage führt in den dunklen Abgrund des Nichts, weil es auf sie niemals eine Antwort geben wird.

Ein Ende, dem ein Anfang innewohnt

Stattdessen war ich entschlossen, das zu tun, was OUBEY tun wollte, nun aber selbst nicht mehr tun konnte: der Öffentlichkeit die Begegnung mit seiner Kunst zu ermöglichen.

Ich hatte keine Ahnung, wie das gehen könnte, aber ich wusste, dass ich einen Weg finden würde. Ich wusste, dass wir trotz allem eine gemeinsame Zukunft haben würden, zumindest solange ich lebe. Und ich war bereit, alles Notwendige zu tun, um seine Kunst in die Welt zu bringen und Menschen in aller Welt für seine Kunst zu begeistern.

Denn ich war mir sicher, dass die Begegnung mit seiner Kunst für Menschen auf der ganzen Welt ein Erlebnis sein würde, das ihnen Freude und auch manche gute Erkenntnis bringt. Also begann ich, mit den Bildern zu Menschen auf der ganzen Welt zu reisen. Es wurde eine fantastische Entdeckungsreise – für die Menschen, die OUBEYs Bildern begegneten genauso wie für mich selbst. Und sie ist noch nicht zu Ende.

Sehr gerne nehme ich Sie in Gedanken auf meine Reise der besonderen Art mit – in meinem kostenlosen E-Book „MINDKISS. Auf OUBEYS Spuren“.

Geht es hier um bloße Effekthascherei oder wirklich um ein Kunsterlebnis von besonderer Qualität, fragte ich mich. Und wollte es wissen. Also habe ich mir das Ganze vor Kurzem einmal mit meinen eigenen Augen angeschaut. 

Optische Sensation – akustische Manipulation

Man muss eine Weile mit der Metro fahren, bis man im 11. Arrondissement ankommt, wo das Atelier des Lumières liegt. Und doch nahmen an diesem Tag außer mir so viele Menschen diese Fahrt auf sich, dass am Eingang eine lange Schlange darauf wartete, ein Ticket zu bekommen – und das abends um 19 Uhr. Ich hatte mir glücklicherweise vorab mein Ticket bereits online gebucht und konnte gleich hinein.

Was mich drinnen erwartete, war erst einmal Dunkelheit und, gemessen an der großen Zahl an Menschen, die sich in der Halle aufhielten, erstaunliche Stille. Und dann: eine Mischung aus Museum und Kino. Gemälde, die vom Künstler seinerzeit einmal schlicht mit Ölfarbe auf vergleichsweise kleinen Leinwänden erschaffen worden waren, erscheinen hier in bewegten Bildern, riesengroß, fragmentiert, herangezoomt – eine gigantische optische Sensation. Dazu kein menschlicher Kommentar, keine Erklärungen oder Interpretationen, aber … begleitende Musik. Wer die Macht der Musik über die Gefühle von Menschen kennt, weiß, wie manipulativ die Verbindung von Bild und Musik wirken kann – auch oder gerade wenn es um Kunst geht. 

Filmmusik zeigt das in aller Deutlichkeit. Doch Filmmusik wird vom Produzenten bzw. Regisseur beauftragt und somit in gewisser Weise vom Erschaffer kontrolliert. Hier dagegen haben Menschen des 21. Jahrhunderts den Bildern eines van Gogh aus dem 19. Jahrhundert eine musikalische Begleitung verordnet, auf die der Erschaffer dieser Bilder keinen Einfluss mehr nehmen kann. Jazz, Klassik, Unbekanntes und auch ein Popsong sind dabei. 

Also tatsächlich eine Mischung aus Museum und Kino. Das muss bei dieser Art der Präsentation wohl so sein, denn sie verträgt nicht die Stille, die die Betrachtung des Originals geradezu verlangt. Eine derart überwältigende Optik würde sich ohne akustische Begleitung im Raum verlieren und somit niemals die intensive Wirkung entfalten können, die sie hier entfaltet.

Ist das nun gut oder schlecht?

Vielleicht stellen Sie sich beim Lesen gerade in diesem Moment diese Frage. Ich habe sie mir gestellt. Und für mich ist das auf keinen Fall eine moralische Frage. 

Die Betreiber des Atelier des Lumières werden selbstverständlich alles tun, um möglichst viele Menschen in ihre Präsentationen zu locken, und das gelingt ihnen ganz offensichtlich ja auch sehr gut.

Menschen, die sich ohnehin für Kunst oder in diesem Fall für van Gogh interessieren, mag diese Art der Präsentation vielleicht fragwürdig erscheinen. Doch da gibt es ja auch viele Menschen, denen die etablierte akademisch-museale Präsentation von Kunst fremd ist. Sie besuchen die spektakuläre „Show“ im Atelier des Lumières aus Neugier auf die Andersartigkeit der überdimensionalen digitalen Präsentation. Sie kommen mit ihrer Familie, ihren Kindern und Babies, suchen sich ihren Platz im Raum, lassen sich nieder und genießen die „Show“. Wenn sie damit einen eigenen Zugang zur Kunst oder zu van Gogh finden, der ihnen womöglich Lust auf Mehr macht, dann wäre allein das aus meiner Sicht schon großartig. Und dass die Babies, die ich beobachten konnte,  hellauf begeistert von den Farben und Formen waren, die sich an den Wänden zeigten, spricht für sich.

Sinnlicher Kunstgenuss statt akademischer Expertise

Das Atelier des Lumières ist eine noch junge Einrichtung, seit rund einem Jahr hat der Ausstellungsort geöffnet. Klimt, Hundertwasser, Jugendstil, Art Deco waren die bisherigen Schwerpunkte der Ausstellungen, wobei mittels 140 Videoprojektoren die Kunstwerke auf eine gigantische Oberfläche von 3.300 m² projiziert werden. 

Die Wände sind 10 Meter hoch, die Räumlichkeit hat wegen ihrer Größe, der Höhe, der Raumtiefe, etwas Sakrales. Es ist dunkel, ganz dunkel, damit die überwältigenden Videoprojektionen ihre volle Wirkung entfalten können – in gewisser Weise ein Ehrfurchtsraum.

Die Ausstellung erreicht tatsächlich viele Menschen, quer durch alle Altersklassen, quer durch die Nationalitäten. Das schafft sie nicht nur durch die Brillanz der Projektionen, sondern auch durch ihre „Sprachlosigkeit“.

Es gibt keine Headsets, kein Museumsführer, der den Menschen ins Ohr flüstert, was sie über die Kunstwerke wissen müssen oder denken sollten. Das Atelier des Lumières ist kein Ort des Expertenwissens. Es ist ein Ort, an dem die Menschen auf eine neue Weise durch  Kunst erreicht und unmittelbar berührt werden. Und das ist meiner Auffassung nach immens wichtig: Neue Wege beschreiten und Technologien einsetzen, um ein Kunsterlebnis zu ermöglichen, dass den Raum für eigene Gedanken, Assoziationen und Interpretationen öffnet. 

Deshalb freut es mich, dass das Atelier des Lumières augenscheinlich erfolgreich ist. Es macht Spaß, sich dort aufzuhalten. Die Menschen sind sehr konzentriert, saugen die Bilder förmlich in sich auf. Nur ihrer eigenen Sinneswahrnehmung überlassen. 

Mein Fazit

Diese neu geschaffene Möglichkeit eines rein emotionalen Resonanzraums ist für die gezeigte Kunst ebenso interessant wie für die Menschen, die den Raum besuchen. Sie schafft ein Gegengewicht zur ökonomisierten Kunstwelt einerseits und zur akademisierten Kunstwelt andererseits. Das ist gut und wichtig. Als Gegengewicht kann sie aber nur erfolgreich sein, wenn es auch weiterhin andere Präsentationsformen gibt, von denen sie sich unterscheidet. Präsentationsformen, die zum Beispiel interaktiv angelegt sind, die mehr zum (Hinter)Fragen einladen als zum Konsumieren oder die es auch mal wagen zu provozieren. Die Frage nach dem „gut“ oder „schlecht“ findet somit ihre Antwort in einem „sowohl als auch“. Ein Besuch lohnt sich aus meiner Sicht auf jeden Fall.

Die Idee, ein Buch über OUBEY und seine Kunst zu veröffentlichen war die erste Idee, die mir nach seinem Tod durch einen Verkehrsunfall im Jahr 2004 in den Sinn kam. Doch wie müsste ein Buch konzipiert und gestaltet sein, das ihm und seiner Kunst gerecht wird? Schnell war klar, dass der Gedanke zwar gut und naheliegend war, aber noch seine Zeit brauchte.  Ich stellte die Buchidee erst mal zurück und entschied mich für den damals sehr innovativen Weg übers Internet. Mit einer Website über OUBEY und seine Kunst würde ich wesentlich mehr Menschen erreichen können und interaktiv wäre sie obendrein auch noch.

Zu diesem Zeitpunkt lernte ich durch einen glücklichen Zufall den Grafikdesigner Stefan Sagmeister kennen und fragte ihn, ob er eventuell das Design für den Internetauftritt von OUBEYs Kunst entwerfen würde. Seine Antwort: „Ich mache keine Websites, nur Bücher.“ „Ein Buch brauche ich auch“ erwiderte ich spontan. Er lächelte. So landete ich bei der Suche nach einem Webdesigner zu meiner Überraschung ein Jahr später dann wieder bei der Buchidee.

In unbeschwerter Ahnungslosigkeit

Die Frage, ob es tatsächlich Zufall gibt oder nicht, hat schon viele Philosophen beschäftigt. In meinem Fall ist klar, dass ich meine erste Begegnung mit einem der besten und inzwischen wohl auch berühmtesten Grafikdesigner der Welt nicht dem Zufall verdankte, sondern vielmehr dem Zusammenwirken einiger gut vernetzter Menschen, die ihre Freude daran hatten, das Ganze hinter meinem Rücken zu arrangieren. Sie schleusten mich in eine Reisegruppe von Kunstmäzenen auf deren Reise nach New York ein,  und ließen mich wissen, wann und wo diese Gruppe Herrn  Sagmeister treffen würde – drei Tage später in New York.

Also flog ich drei Tage später zum ersten Mal in meinem Leben nach New York. Als ich ihn dort tatsächlich traf, hatte ich noch immer keine Ahnung, wer er eigentlich war, welch tolle Projekte er bereits für Stars wie Lou Reed, die Talking Heads oder die Rolling Stones gemacht hatte und schon gar nicht, dass er dafür mit dem Grammy und anderen großen Preisen überhäuft worden war. Ein Star unter den Designern. In unbeschwerter Ahnungslosigkeit ging ich auf ihn zu und fragte. Sein freundliches Lächeln ermutigte mich.

 Nicht Ja, nicht Nein

„Bevor ich Ja oder Nein sage, muss ich erst einmal Arbeiten von OUBEY sehen. Ich übernehme nur Projekte, von denen ich selbst absolut überzeugt bin“, war seine Reaktion. Das schreckte mich nicht, ganz im Gegenteil: Von diesem Moment an war ich mir sicher, dass er der Richtige für dieses Buchprojekt sein würde. „Dann komme ich in ein paar Monaten noch einmal mit Bildern von OUBEY im Gepäck“ meinte ich. Und so war es dann auch.

Als ich ein halbes Jahr später mit meinem Laptop voller Bilder bei ihm im Studio saß, schaute er sie sich in aller Ruhe an. Ich spürte, dass er sie interessant fand und fragte ihn zum zweiten Mal. Seine Antwort war weder Ja noch Nein. Stattdessen fragte er mich einfach: „Was halten Sie von fünf Bänden in einem schönen Schuber?“

Ich war auf Anhieb begeistert. Mit wenigen Blicken auf einige Bilder hatte er sowohl die Vielfalt als auch die Konsistenz in OUBEYS Kunst erkannt. Beides fand schließlich im MINDKISS Buch seinen kongenialen und sensationellen Ausdruck: Fünf zierliche Bände, die die Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit von OUBEYs Arbeit zum Ausdruck bringen, vereint in einem grandiosen Schuber, der zeigt, das alles miteinander verbunden ist. 

Eine optische Sensation

Ein ganzes Jahr war ich damit beschäftigt, die Bilder für die verschiedenen Bände auszusuchen und die Reihenfolge ihres Erscheinens in jedem Band zu entscheiden. Auf dieser Basis begannen Stefan und sein Team, allen voran Roy Rub und Seth Labenz, mit der Ausgestaltung. Im Innern bekam jeder Band sein eigenes Farbklima, im Cover waren sie sich alle gleich: strahlend metallisches Silber. Selbst eine eigene Schrift wurde für dieses Buch entwickelt – sehr mathematisch und zugleich von großer Transparenz und Leichtigkeit. Rätselhaft für jeden, der sie zum ersten Mal sieht, aber dennoch lesbar. Auf dem Buchrücken jedes Bands eine Ansammlung kleiner Pixel. Wenn die Bände in einer bestimmten Reihenfolge zusammenstehen, dann ergibt sich das Wort „OUBEY“. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und als dann ein Paket mit dem Prototyp des Schubers bei mir ankam, war ich sprachlos. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.

Erst als wir soweit gekommen waren, ging für mich die Textarbeit los.

Kleider für den Erkenntnisprozess

Ich wandte mich an einen renommierten Texter, der auf der Grundlage meines Inputs für jeden Band einen längeren Einführungstext schrieb. Sehr gute Texte. Doch ich spürte, dass sie nicht das waren, was ich für das Buch wollte.

Während einer hochspannenden Diskussion half mir dann die unlängst verstorbene Annemarie Monteil aus Basel, Kunstkritikerin und Freundin, auf die Sprünge: „Weißt du, Dagmar, das Beste an den Texten sind die Originalzitate von OUBEY. Alles andere schmälert die Kunst, weil es ihr nur Kleider überzieht, die sie nicht braucht.“

Wow, das saß. Denn wir waren mit den Texten zu diesem Zeitpunkt eigentlich fertig. Aber ich wusste sofort, dass sie Recht hat. Und ich bin, wenn es notwendig ist, radikal und konsequent genug, um etwas vollkommen neu zu überdenken. Das Bessere ist der Feind des Guten.

Alles neu

Die Texte schrieben im konventionellen Stil von Kunstbüchern und Katalogen über OUBEYS Kunst. Da schrieb jemand dem Leser vor, wie er die Bilder zu finden hat. Aber OUBEYS Kunst sollte jeder für sich selbst entdecken. Die Menschen sollten seiner Kunst so frei begegnen wie möglich, und nicht schon durch die honorige Stimme eines Dritten irgendeinem Interpretationsschema folgen. 

Also war klar: Wir brauchen neue Texte!

Stefan Sagmeister war ein bisschen geschockt. Er begann wohl langsam daran zu zweifeln, ob das Buch jemals fertig werden würde. Doch zum Glück war durch die mehrjährige Zusammenarbeit mittlerweile so viel Vertrauen entstanden, dass er mir abnahm, dass ich gute Gründe für diese Kehrtwendung hatte und am Ende etwas Besseres dabei herauskommen würde. Natürlich sind solche radikalen Entscheidungen immer auch mit einem Risiko verbunden. Doch ich war mir nun absolut sicher: OUBEYS Kunst sollte nicht beschrieben, erklärt oder interpretiert werden. Nicht in diesem Buch und auch in keiner anderen Produktion des Projekts. Diesem Grundsatz bin ich bis heute treu geblieben.

So gibt es in den fünf Bänden des Buchs jeweils nur drei kurze Texte: Ein Originalzitat von OUBEY selbst, ein Stück Text aus einem Buch oder ein Gedicht, das OUBEY viel bedeutet hat, und am Ende noch ein kurzer Text von mir, in dem es aber ausschließlich um Hintergrundgeschichten zur Entstehung der Bilder geht. 

Die einzige Möglichkeit

Diese neue Textstruktur zu entwickeln, hat noch einmal ein paar Monate gedauert – und mir dabei viel Freude bereitet. Auf meiner Odyssee zu dem, was MINDKISS ausmacht, war ich an einem Punkt großer Klarheit angelangt, nicht nur für das Buch.

2010 war es dann endlich soweit. Das Buch erschien im Deutschen Kunstverlag – limitierte Auflage, 1000 einzeln nummerierte Exemplare, und es erhielt auch bald drei bedeutende Preise für sein herausragendes Design. Gemeinsam mit der ersten Version der Website www.oubey.com und dem Film „OUBEY Experience“ wurde es im ZKM Karlsruhe am 23. März 2010 der Öffentlichkeit präsentiert. Noch sind nicht alle Exemplare verkauft, doch es wird definitiv keine Neuauflage geben. So wie die Geschichte dieses Buchs einzigartig ist, wird auch das Buch einmalig bleiben. 

Oft werde ich gefragt, ob ich eins von OUBEYs Bilder verkaufen würde. Und viele, die einen Encounter mit einem seiner Bilder erlebt haben, hätten dieses Bild gerne bei sich behalten. Aber da ich ja keines von OUBEYS Bildern verkaufe und die Bilder nur selten in der Öffentlichkeit zu sehen sind, wurde das Buch zu einer Möglichkeit, wie Menschen OUBEYS Kunst nicht nur kennenlernen, sondern auch mit nach Hause nehmen können.

Und wenn mir glückliche Besitzer des Buches dann gelegentlich ein Foto zuschicken, auf dem das Buch in einem Regal, einer Vitrine, auf dem „Lesetisch“ oder im Schaufenster des eigenen Geschäfts zu sehen ist, dann freue ich mich darüber, dass der lange und sehr ungewöhnliche Entstehungsprozess dieses Buches zu einem Ergebnis geführt hat, das nicht nur bedeutende Preise eingebracht hat, sondern auch Menschen wirklich begeistern kann. Von meinem eigenen Lernprozess in dieser Geschichte einmal ganz abgesehen. 

Der Beitrag im Monopol Magazin basiert auf der ernüchternden Erfahrung des Autors Oliver Koerner von Gustorf auf der diesjährigen Biennale. Doch er bezieht sich im Grunde auf den gesamten kommerzialisierten Kunstbetrieb der heutigen Zeit. 

Dekadent und selbstbezogen

Er beschreibt und kritisiert das System, die ausgestellte Kunst wie auch die Kunstmacher, Manager und potentiellen Käufer. Nichtssagende Kunst, die so tut als sei sie bedeutsam, vor allem aber teuer verkauft werden will. Und wenn schon nicht verkaufbar, dann aber doch im Sinne erfolgreichen Marketings für den Künstler und seinen Galeristen wenigstens spektakulär und aufsehenerregend. Passend dazu die Gepflogenheiten und Attitüden der Akteure des etablierten Kunstbetriebs. 

Sie treffen sich aus Anlass mehr oder weniger bedeutender Events, tauschen Visitenkarten aus und fühlen sich wichtig. Die Biennale nur noch eine Bühne für pseudointellektuelle Selbstpräsentation. Die Kunstszene eine in sich geschlossene Gesellschaft.  Exklusiv zelebrierte Dekadenz.. 

Daran ist viel Wahres, doch wenig Neues. Denn seit mehr als dreißig Jahren ist diese Entwicklung bereits im Gange und für jedes kritische Auge, das sich nicht bezirzen und verführen lässt, auch klar erkennbar. Genau aus der Erkenntnis dieser Mechanismen heraus beschloss OUBEY im Jahr 1992 nach seiner ersten, sehr erfolgreichen Verkaufsausstellung, diesem System den Rücken zu kehren. Eine sehr gute Entscheidung.

Eine exklusive Aura

Das ganze System in seiner jetzigen Form ist interessant nur für seine Insider, d.h. für die, die an ihm und in ihm verdienen. Ich kann dem Verfasser des nur zustimmen, wenn er schreibt: „In der etablierten Kunstwelt gelten dieselben Regeln für die Menschen wie für die Ware Kunst. Sie müssen in irgendeiner Weise eine exklusive Aura haben, sonst funktioniert das System nicht.“ 

Genauso recht hat die Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr, wenn sie schreibt: „Moderne Kunst ist eben das, was das Kunstsystem als Kunst ausstellt. Was kein Label hat, nicht in irgendeiner Galerie steht, nicht Teil einer Ausstellung ist, keine Signatur eines anerkannten Künstlers hat, gilt nicht als Kunst.“

Interessant und in gewisser Weise paradox dabei ist, dass ein Magazin wie Monopol ja selbst Teil dieses Betriebs ist, den es da so heftig kritisiert. Deshalb die Frage: Gehört zu dieser Erkenntnis auch Selbsterkenntnis? Und wenn ja, welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Oder bleibt es bei der einstimmigen Kritik der Szene, und nachdem sich alle gegenseitig bestätigt haben, wie furchtbar dieser Kunstbetrieb doch ist, macht man dann so weiter wie bisher?

Banksy undercover

Ich vermute eher Letzteres. 

Der Kunstbetrieb macht genau das, was ihm wirtschaftlich nützt. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch so ganz nebenbei entscheidet er darüber was wichtige, bedeutsame Kunst ist und was nicht. Was nicht teuer verkaufbar ist, ist uninteressant und damit unbedeutend. 

Ein solches System müsste sich ja selbst zerstören, um anzuerkennen, dass die lebendige Kunst schon längst außerhalb der „Heiligen Hallen“ des etablierten Kunstbetriebs stattfindet. Manchmal sogar direkt nebenan. So auch bei der diesjährigen Biennale. 

Denn Banksy, der größte Street-Art-Künstler unserer Zeit, ließ sich die Gelegenheit der Biennale für eine nächste Aktion nicht entgehen. Er baute an einem der Kanäle unerkannt einen eigenen Stand auf, und tatsächlich realisierte keiner der Kunstexperten, dass Banksy da war. Das sagt mehr als tausend Worte und offenbart die Blindheit für das, was sich an lebendiger Kunst außerhalb des Betriebs abspielt. Allzu gerne würde man sich ja auch noch diesen widerspenstigen Banksy einverleiben, der sich teuer verkaufen ließe, doch der lässt das – soweit er es beeinflussen kann – nicht zu. Er lässt sich seinen Erfolg nicht abkaufen. Am System vorbei und dabei dessen perfide Mechanismen zugleich intelligent nutzend, hat er auf eigenen Wegen Prominenz erlangt.

Es gibt viele, die ähnlich spannende Kunst machen oder gemacht haben wie Banksy. Sie sind nicht weltberühmt wie er. Darum geht es aber auch gar nicht. Es geht darum, dort wo Menschen leben, die Kunst mit ihrem Leben in Verbindung zu bringen, sie zu inspirieren, sie zum Denken oder Handeln anzuregen, oder ihnen auch einfach  nur Freude zu bereiten. Genau diese Freude an der Kunst sollte man sich durch nichts verderben lassen –schon gar nicht durch eine Biennale in Venedig. Finde ich. Und was meinen Sie?

Ist die Entscheidung des Museums eine Ausnahme oder ist sie das erste Signal für einen Umschwung? 

Gemeinnützigkeit vs. Profitabilität

Museen sind eine relativ junge Errungenschaft unserer Zivilisationsgeschichte. Bis zur Französischen Revolution befanden sich Kunstschätze zumeist im Privatbesitz von Königen, Fürsten und anderen Adeligen, die als Mäzene die Künstler ihrer Zeit beauftragten und bezahlten und deren Werke dann für sich behielten. Erst im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des aufsteigenden Bürgertums, wurden diese Kunstschätze nach und nach in staatlich finanzierten Kunstmuseen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das war ein großer Fortschritt.

Seither ist die Zahl der Museen stetig gewachsen. Heute stehen sie angesichts gesunkener staatlicher Subventionen untereinander im harten wirtschaftlichen Wettbewerb. Angesichts hohem Kapitalbedarf bei schrumpfendem Kulturetat befinden sie sich in der Besucher-Einnahmen-Falle. Das doch eigentlich gemeinnützige, nicht kommerziell ausgerichtete Museum muss nach dem Modell des ständigen Wachstums arbeiten. Das hat zwei Trends zur Folge:

Zum einen den Trend zu Blockbuster-Ausstellungen über Kunst, die im kommerziellen Kunstbetrieb hoch gehandelt wird. Was viel kostet muss viel wert sein, heißt das Prinzip, und wirkt deshalb als Publikumsmagnet. Dieser Trend hat zur Folge, dass experimentelle Konzepte oder weniger bekannte Künstler, die nicht zu den Pop Stars der Kunstszene gehören, außen vor bleiben. Das Risiko eines Minusgeschäfts ist den Museen einfach zu groß.

Dem folgt als zweiter Trend,  dass viele Museen, um derart publikumswirksame Ausstellungen finanzieren zu können,  großzügige Spenden reicher Privatpersonen oder Unternehmen gerne entgegennehmen.

Geld stinkt nicht – oder doch?

Ist doch egal, wo das Geld herkommt – Geld stinkt nicht, denken Sie vielleicht. Und wenn das Geld einem guten Zweck wie der Aufbewahrung von Kunst in einem Museum oder der Restauration von Notre-Dame zugute kommt, dann ist das nur recht und billig. 

Tatsächlich hat es lange Zeit niemanden interessiert wo die Mittel fürs Kultursponsoring eigentlich herkommen und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Nun wird das aber immer häufiger kritisch hinterfragt.

So zum Beispiel auch von einer Aktivistengruppe, die sich in Anlehnung an das berühmte „To be or not to be“ aus Shakespeare´s Hamlet „BP or not BP“ nennt. Damit bezieht sie sich auf das Sponsoring der Royal Shakespeare Company und des British Museum durch den Ölkonzern BP und vor allem auf dessen bekannt gewordenen Versuche der Einflussnahme darauf, welche Sonderausstellungen zum Schlager im Programm des Britischen Museums werden sollen.

Im Fall der Familie Sackler gilt die Kritik vor allem der Tatsache, dass sie ihr Geld, das sie mit ethisch dubiosen Pharma-Geschäften verdient, dann im  Kultursponsoring quasi „reinwäscht“.

Und als Mitte April ein Feuer die Kathedrale Notre-Dame in Paris und einen Teil des dort aufbewahrten Kulturerbes zu zerstören drohte, löste das nicht nur allgemeines Entsetzen aus, sondern auch eine bis dahin nicht dagewesene Spendenbereitschaft unter den reichsten Familien Frankreichs aus. Innerhalb kürzester Zeit kamen 800 Millionen Euro zusammen. Das ist ohne Frage gut für die Zukunft der beschädigten Notre-Dame. Und doch empfand die französische Öffentlichkeit diesen Vorgang eher befremdlich. Woher kommt dieses Störgefühl?

Es geht um Unabhängigkeit und Vielfalt

In einer pluralistischen Gesellschaft, die auf demokratischen Grundsätzen basiert, ist die Frage nach der Unabhängigkeit gemeinnütziger Einrichtungen eine sehr wichtige Frage. Denn nur ein ausreichendes Maß an Unabhängigkeit ermöglicht echte Vielfalt und stärkt den Mut zu Neuem, das nicht stromlinienförmig im Zeitgeist schwimmt, sondern auch mal Anstoß erregt oder zum Widerspruch reizt. Das tut einer offenen Gesellschaft gut. 

Letztlich greift diese Art von Kultursponsoring ja überhaupt nur deshalb, weil der Allgemeinheit das Geld fehlt, um frei von solcher Unterstützung unabhängig agieren zu können.

Großmut kann viele Gründe haben

Allzu oft können sich Großverdiener ihrer Pflicht entziehen, unspektakulär und ohne Prestigegewinn wie jeder andere auch ihren Teil zur Gemeinschaft beizutragen. Mit ihren freiwilligen Finanzierungsbeiträgen holen sie diese Pflicht nach und erscheinen dabei zugleich als Wohltäter.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Es wäre spekulativ und unredlich, den Sponsoren ihre Liebe zu Kunst und Kultur absprechen zu wollen. Doch die Frage nach dem Zweck so mancher Großzügigkeit muss erlaubt sein. Sponsoring ist immer auch eine Form der Werbung und des Marketing von Firmen oder Einzelpersonen, und das zumeist in Kombination mit einem interessanten Abschreibungs- oder Steuersparmodell. Das ist erlaubt und aus unternehmerischer Sicht sogar naheliegend. 

Ich denke, ohne hier das weite Feld der Finanzierung von Museen im Besonderen und Kunst im Ganzen abstecken zu wollen oder können, dass wir genauer hinschauen müssen, woher das Geld für unsere Kultur kommt. Ich jedenfalls hoffe, dass die Aktion der Tate Gallery keine Eintagsfliege bleibt, sondern da, wo es angebracht ist, Schule machen wird. 

Ein revolutionäres Unterfangen, das den Grundsatz „form follows function“ als Befreiungsformel von den Schönheitsmaßstäben einer bürgerlichen Gesellschaft verstand, die dem 19. Jahrhundert entstammte. Und die anstrebte, bessere Wohn- und Lebensverhältnisse für alle Menschen zu schaffen.

Gibt es ein Nonplusultra?

Innerhalb eines Jahrzehnts wurde ein neuer, moderner, klarer Stil entwickelt. Dabei wurden die eigenen Gestaltungsgrundsätze zum absoluten Maßstab und Nonplusultra für alles erklärt, was Design, Kunst, Handwerk und Architektur betraf und manche Anhänger des Bauhauses sehen das auch heute noch so.

Ich sehe das differenzierter. Ja, das Bauhaus war ein Fortschritt im Kontext der Zeit, weil es neue Denk- und Gestaltungsräume erschlossen hat. Und ja, das Bauhaus war wichtig, vielleicht sogar notwendig, um ein neues Verständnis von wesentlichen Aspekten und Dingen des Lebens zu gewinnen. 

Doch wenn ich mir anschaue, was sich in der Tradition des „Form Follows Function“ und unter Berufung auf die Prinzipien des Bauhauses in den letzten 60 Jahren an Stadt- und Wohngestaltung ausgebreitet hat, dann sehe ich hier eine gewaltige Diskrepanz zwischen diesem einst absoluten Anspruch und dem, was in der Realität daraus geworden ist .

Was folgte war Normierung und Standardisierung unter dem Maßstab der Ökonomisierung – quadratisch, praktisch, gut. Öde und gleichförmige Wohnlandschaften, die kein wirkliches Zusammenleben ermöglichen. Gigantische Silos, in denen Menschen an Stadträndern in aufgetürmten Schuhschachteln leben..

Zugegeben – im Vergleich zu primitiven Altbauwohnungen im Hinterhof ohne Zentralheizung und sanitäre Grundausstattung waren diese Bauten tatsächlich ein Fortschritt. Doch mit einem ästhetischen Anspruch auf gestalterische Schönheit, die der Funktion folgt, haben sie nichts gemeinsam. 

Die Schönheit der architektonischen Bauhaus-Ästhetik, die es aus meiner Sicht in den originalen Bauten wirklich gab und noch immer gibt, beschränkt sich heute auf einige, zum Teil luxuriöse Ausnahmebeispiele. In der massenhaften Anwendung hat sich das einstige Versprechen jedoch nicht bewahrheitet. Hier braucht es heute ganz andere, neue Konzepte, wie sie in lokalen und regionalen Projekten – ohne Absolutheitsanspruch – ja auch realisiert werden.

Gab es eigentlich auch Frauen im Bauhaus?

Doch nicht nur das, was in Fortsetzung der Grundgedanken des Bauhauses nach dem Zweiten Weltkrieg das Bild unserer Städte geprägt hat, gibt Anlass zur kritischen Hinterfragung.

Noch ein ganz anderer Aspekt bringt mich in eine distanzierte Haltung zum Absolutheitsanspruch des Bauhauses und seiner Gründer. Obwohl es sehr viele weibliche Mitglieder gab – phasenweise waren sogar mehr Frauen als Männer am Bauhaus tätig – sind sie bis heute weitestgehend unbekannt geblieben. Denn bis zu seiner Auflösung durch die Nationalsozialisten war das Bauhaus eine durch und durch männlich dominierte Organisation. 

Vor allem dem 100jährigen Jubiläum ist es zu verdanken, dass die Frage nach den Frauen im Bauhaus nun zum ersten Mal öffentlich beleuchtet wird. So auch in einem sehr interessanten Bericht über „Die Frauen im Bauhaus“,  der vor kurzem auf Arte TV ausgestrahlt wurde. Wenn man diesem sorgfältig recherchierten Bericht folgt, wurden selbst begabteste und ambitionierte Frauen bewusst von relevanten Leitungsfunktionen ausgeschlossen und auch von den öffentlichkeitswirksamen Aufgaben ferngehalten. Stattdessen wurden sie vorzugsweise den handwerklichen Bereichen, allen voran der Weberei zugeteilt. Umso interessanter zu erfahren, dass die Bauhaus-Frauen aus der ihnen verordneten Nische heraus mit ihren Teppichen, Möbeln und  Kinderspielzeug damals nicht nur gestalterisch, sondern auch ökonomisch ausgesprochen erfolgreich waren.

Was die Akzeptanz qualifizierter Frauen im Bauhaus als gleichwertige und gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe betrifft, waren dessen männliche Gründer und Protagonisten dann doch noch eher dem 19. Jahrhundert zugewandt als einer revolutionären Grenzüberschreitung in die Zukunft. 

Ein neues Konzept fürs 21. Jahrhundert?

Heute ist gemieteter Wohn- und Lebensraum vor allem zu einer Frage von Menge, Preis und Rendite geworden. Das Thema wurde politisch lange vernachlässigt, wenn nicht gar ignoriert. Nun fehlt es akut und massiv an bezahlbarem Wohnraum. Da tauchen plötzlich Enteignungsfantasien auf, doch Gestaltungsfragen wie sie einst vom Bauhaus gestellt wurden, spielen schon seit langem keine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Das halte ich für einen großen Mangel. Deshalb würde ich mir – trotz aller Widersprüche, die dem Bauhauskonzept innewohnten – dann heute doch eine so radikal umdenkende und zukunftsorientierte Kraft wünschen wie sie das Bauhaus mit seinen Impulsen vor 100 Jahren für die damalige Gesellschaft war. 

Wer nicht fragt bleibt dumm

Dabei geht doch nichts über eine gute Frage, denn jeder Lern- und Erkenntnisprozess beginnt mit der Neugier, aus der eine Frage entsteht, die nach einer Antwort sucht. 

Das wusste bereits Sokrates, der im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung seine philosophische Schule gründete und seine Studenten lehrte, kluge Fragen zu stellen. „ Ich weiß, dass ich nicht weiß“ heißt sein berühmter Ausspruch, mit dem er alles hinterfragte, was allgemein als Wissen und selbstverständlich galt. 

Für ihn war klar, dass wirkliche Weisheit nur Derjenige erlangt, der sich mit Demut und Neugier in die Welt hinaus begibt. Wer fragt und hinterfragt, der kann zu echten Erkenntnissen kommen. Deshalb ist die Ausgangslage des „Nicht-Wissens“ einer der Grundpfeiler seiner Denkschule. 

Neugier als Schlüssel zur Vielfalt

Ich bin überzeugt, dass Sokrates Recht hat. Die Fülle der ungelösten Fragen  dieser Welt und des Universums, dessen Teil wir sind, ist so groß, dass jede neu gefundene Antwort auf eine Frage bereits eine nächste Frage auslöst. So geht das jedenfalls den forschenden Wissenschaftlern, denen wir einiges an Erkenntnissen und Entwicklungen verdanken. Zu glauben, ein Einzelner könne auf alles eine Antwort haben, begrenzt den Horizont der Fragen auf ein überschaubares Feld. Wer glaubt, dass es nichts Neues mehr unter der Sonne gibt, hört auf, die Welt zu entdecken und dabei auch sich selbst zu erkennen. Er bleibt stehen und hört damit auf, sich weiterzuentwickeln.

Leben bedeutet aber Bewegung und Vielfalt. Und ist nicht genau dafür die Kunst des Fragens ein elementares und zutiefst kluges Werkzeug für unser Leben? Neugier ist ein Schlüssel, um die Tore zu einer Welt der Vielfalt aufzuschließen.

Raum für Entdeckung

Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die  Kunst kann dieses Fragen, Staunen und Entdecken auslösen. OUBEY war der Kunst ebenso verbunden wie der Wissenschaft. Er war ein fragender, forschender Künstler. Seine Bilder stellen Fragen, sie geben aber auch Antworten, die ihrerseits zu neuen Fragen führen. Das macht sie so spannend. 

Dass OUBEYs Bilder diese Qualität haben, konnte ich in den Encounters immer wieder erleben. Die Betrachter stehen nachdenklich, fasziniert, überrascht und mit fragendem Blick vor seinen Werken. Sie begeben sich auf eine Entdeckungsreise in die Bilder hinein. Voller Neugier lassen sie sich auf die Fragen ein, die die Bilder in ihnen auslösen. Und suchen, emotional berührt, in ihrem Inneren nach Antworten.

Was beim Betrachten von OUBEYs Bildern nicht hilft, ist ein scheinbar allwissender Gelehrter, der sie auf eine Erklärung reduziert.. Sie brauchen einen weiten, offenen Raum der Begegnung mit Menschen und mit der Welt. Dann kommen die Fragen und die Antworten auf die Fragen wie von selbst. Aus dem Innersten der Betrachter.

Kinderkram

Es gab eine Zeit, in der galten Comics unter Erwachsenen bestenfalls als Kinderkram, unter strengen Pädagogen als minderwertiger Schund. Dank meiner Mutter, die für mich irgendwann die „Micky Maus“ abonnierte, hatte ich entgegen dem damaligen Zeitgeist jahrelang das Vergnügen, jede Woche ein neues Heft im Briefkasten zu finden, das ich mit größtem Vergnügen las. Das habe ich ihr bis heute nicht vergessen.

Es war die Zeit, in der die Trennungslinie zwischen „E“ und „U“, also zwischen ernsthafter Kunst einerseits und vergnüglicher Unterhaltungskultur andererseits streng gezogen wurde. Vor allem, wenn die Unterhaltung aus Amerika kam. Der trivial-unterhaltsame Bereich, zu dem neben Comics auch die englischsprachige Pop- und Rockmusik gehörten, wurde ausgegrenzt und fand seine Heimat zunächst nur in den eigenen Welten der Jugend – und der Subkultur.

Kunst

Inzwischen haben Comics nicht nur längst Einzug in die Erwachsenenwelt gehalten, sondern sind auch – zurecht wie ich finde – als Teil der Kultur und Ausdrucksform von Kunst anerkannt. OUBEY sah das schon immer so. Seine Comic Sammlung war schon immer beachtlich und wuchs im Laufe der Jahre kontinuierlich an. Darin finden sich unter anderen auch viele der wunderbaren Publikationen des Zeichners Jean Giraud, der sich selbst Moebius nannte, sowie die Bände der japanischen Comic Serie „Akira“. Sie zeichnen sich nicht nur durch ihre herausragende zeichnerische Qualität aus, sondern ebenso durch die philosophischen Themen, die in Geschichten wie „Die luftdichte Garage“ behandelt werden. Der Band „Zu den Sternen“, dessen Coverbild Sie im Header dieses Beitrags finden, ist „eines der faszinierendsten Science Fiction Abenteuer, die Moebius je zu Papier gebracht hat“, kommentierte der Verlag bei dessen Veröffentlichung. Moebius wurde hierfür im Jahr 1984 vom französischen Kulturminister Jack Lang mit dem Großen Staatspreis Frankreichs für Graphische Künste ausgezeichnet.

Kommerz

Spätestens seit Stan Lee die Comic-Helden der Marvel-Welt auf die große Leinwand brachte, gehört das Genre zum Mainstream. Heute kommt kaum ein Kinogänger mehr an ihnen vorbei. Und mit dem zugehörigen Merchandising werden Milliarden erwirtschaftet. Stan Lee, ein Superheld des Marketing. Ist es allein dem gekonnten Marketing eines Stan Lee zuzuschreiben, dass die einst verpönten Comics nicht zuletzt dank ihrer aufwendigen Verfilmungen zum „Kulturgut“ wurden?  

Eine uralte Sehnsucht

Wohl auch, aber da gibt es aus meiner Sicht noch einen anderen, tieferliegenden Grund. Die Grenzen haben sich aufgeweicht, das Denken wurde offener und die Sehnsucht der Menschen nach fabelhaften und fantastischen Heldengeschichten hat in vielen Comics eine neue Ausdrucksform gefunden. 

Diese Sehnsucht ist nicht neu. Sie fand ihren Ausdruck bereits in den alten Götter- und Heldensagen und zeigt sich heute, im Spiegel der Zeit, in neuem Gewand. Der Fantasie, die in diesen unwahrscheinlichen Geschichten mit ihren unverwüstlichen Helden lebendig wird, liegt ein Bedürfnis nach der Unbesiegbarkeit des Guten zugrunde. Dieses Bedürfnis wird in den Comics auf sehr unterhaltsame Weise befriedigt. Die rationale aufgeklärte Welt findet hier ihren vergnüglichen Gegenpart, der gelegentlich auch durchaus politische Anspielungen enthält. Das gilt übrigens nicht nur für die sich irgendwie alle ähnelnden Helden der Marvel Comics. Das galt und gilt auch noch immer für sehr viele andere Comic-Serien, die vielleicht etwas in die Jahre gekommen sind wie z.B. Asterix & Obelix oder das ebenso winzige wie allgewaltige Marsupilami.

„Aber was daran ist nun Kunst?“ werden Sie vielleicht fragen. 

Freiheit der Fantasie

Diese Frage werde ich hier sicher nicht beantworten können. Aber ich sehe Gemeinsamkeiten zwischen dem, was Kunst genannt wird und dem, was man Comic nennt. 

Die Idee, diesen Beitrag zu schreiben, kam in einem Gespräch auf, das ich vor einiger Zeit mit jemandem über OUBEY führte. Aufgrund der zum Teil sehr tiefgründigen, vielschichtigen Bilder und Zeichnungen, die er von OUBEY kannte, war er sehr erstaunt, als ich im Gespräch irgendwann erwähnte, dass OUBEY auch gerne mal Comics zeichnete.  

Bereits als Schüler verfasste und produzierte er selbst eine eigene Comicserie: „Die Abenteuer des André Noir“. Da es damals noch keine öffentlichen Kopiergeräte gab, er aber möglichst viele Exemplare herstellen und verkaufen wollte, zeichnete er jedes einzelne Heft mit der Hand.   

In der Kunst ist alles möglich. Das gilt ganz besonders auch für Comics. Hier werden neue Wesen, neue Welten und neue Universen geschaffen und visualisiert. Das Denken bekommt Flügel und entführt sich selbst in den freien Raum der Fantasie. Wenn ich mir manche Bilder und Zeichnungen von Paul Klee anschaue, der ohne Frage ein wirklich großer Künstler war, dann wird der Zusammenhang für mich klar erkennbar. Mit einem Teil von OUBEYs Werken geht mir das genauso.

Aus meiner Sicht ist es ein Fortschritt, dass die Grenzen nicht mehr so dogmatisch gezogen werden. Kunst erweitert ihr Spektrum und das, was Spaß macht, wird nicht mehr per se ausgegrenzt.

Starre Grenzen sind für den Geist eine Herausforderung, die er überwinden will. Dass das immer wieder und immer öfter gelingt, finde ich sehr gut, sehr erfrischend und eine wertvolle Entwicklung.

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Headerfoto: Moebius – Zu den Sternen (Cover), Schwermetall Band 5, 1987

Kunst ohne Schutzraum

Popularität ist etwas, von dem viele Künstler zunächst träumen, solange sie noch unbekannt und wenig erfolgreich sind. Erreicht einer dann den Status eines Superstars oder wird gar zur Ikone, dann wird diese Popularität oft zur Last, denn sie macht es schwer möglich, ein „normales“ Privatleben zu führen – belagert von hysterischen Fans oder gejagt von wild gewordenen Paparazzi. Selber schuld – das ist eben der Preis des Ruhms, mögen Sie vielleicht denken. Dafür leben diese Stars immerhin ein Leben im Luxus und haben keine anderen Sorgen. 

Ich sehe das nicht so. Viele Künstler werden getrieben von Erwartungen, die Presse und Fans an sie stellen. Wie geht man als Mensch mit solchen Erwartungen um? Wie kann man sie steuern oder sogar unbeirrt und frei seinen eigenen Weg gehen? Viele schaffen das nicht und scheitern daran wie seinerzeit beispielsweise Elvis Presley, oder der von Kindheit an zur Leistung auf der Bühne getrimmte Michael Jackson. Sie haben uns großartige Musik geschenkt, waren megaerfolgreich und sind bis heute im kollektiven Gedächtnis der Weltöffentlichkeit, doch waren sie in ihrem Leben wirklich glücklich? 

Im Scheinwerferlicht, auf der Bühne oder am Set mag ein Glück möglich sein. Da zählt die Kunst und die Rollen sind klar. Doch was passiert, wenn der Künstler den Schutzraum der Bühne verlässt und auf sich selbst gestellt ist? Oder wenn er den Erwartungen der Menge nicht (mehr) genügt? Wer sieht den Menschen abseits der Bühne und vor allem: wer respektiert ihn?

Viele sind daran zerbrochen, denn der Erfolg ist kein Garant dafür, dass man auch als Mensch glücklich wird. Wenn Erfolg ein bestimmtes Stadium des Ruhms erreicht, fordert er einen sehr hohen Preis. 

Der Öffentlichkeit ausgesetzt

Für Künstler ist zu allererst einmal die Kunst, die Bühne oder das Studio ein Ort der Heimat. Und auch ihr Zufluchtsort. Hier können sie sich ausdrücken, wie sie sind. Und hier sind sie zunächst sicher, denn in ihrem Entstehungsprozess ist die Kunst nicht angreifbar. Angreifbar wird der Künstler erst, wenn er an die Öffentlichkeit geht, sich und sein Werk exponiert.

Gute Kunst offenbart das Innerste und ist deshalb immer zutiefst persönlich. Das schafft Ängste und kostet Energie. Wenn die Öffentlichkeit ins Spiel kommt, versucht sie dann, etwas aus dem Menschen hinter dem Werk zu machen, was er vielleicht gar nicht ist.

Manche zerbrechen daran, andere entwickeln eine Resilienz – allein, in der Band oder weil sie eingebettet sind in ein familiäres Umfeld, das sie schützt. Wie ein stabiles Boot, das sie durch das wogenden Meer der Öffentlichkeit Wahrnehmung steuert. 

Standing strong

Meine absolute Nummer eins als Künstler und auch als unbeugsame, willensstarke Persönlichkeit war immer Bob Dylan, seit Jahren besuche ich seine Konzerte. Er wurde von seinen Fans, die in ihm den Folksänger oder politischen Rebell sehen wollten, als „Verräter“ ausgebuht und beschimpft, als er 1966 erstmals mit elektrischer Gitarre und Orgel seine neueste Komposition „Like A Rolling Stone“ auf der Bühne spielte. Für ihn war dieser neue Sound eine Entdeckung und Erweiterung seiner künstlerischen Möglichkeiten. Dafür hatten die selbst erklärten Fans kein Verständnis. Sie wollten ihm ihr Bild von ihm aufzwingen und machten damit deutlich, dass er ihnen sowohl als Künstler wie auch als Mensch Bob Dylan egal ist.

Wie er sich damals dabei fühlte, weiß nur er. Aber dass er sich davon nicht beeindrucken ließ, sondern bis zum heutigen Tag unbeirrt immer das getan hat, was er gut und richtig fand – notfalls „against all odds“ – das weiß inzwischen jeder. Bei Konzerten verändert er seine Lieder nach Belieben, versetzt „Blowin´ in the Wind“ schon mal in den Walzertakt, wenn er Lust dazu hat. Als ich ihn zum ersten Mal live spielen hörte, konnte ich keinen einzigen Song auf Anhieb erkennen. So etwas habe ich nie vorher und auch seither nie bei einem anderen Künstler erlebt. Das führte jedoch erstaunlicherweise nicht zu einer Enttäuschung des Publikums. Im Gegenteil: Irgendwann ging der ganze Saal nur noch mit, folgte dem Sound und dem Rhythmus und hatte einen großartigen, unvergesslichen Abend – mich eingeschlossen.

Was Bob Dylan von sich preisgeben will, drückt er in seinen Texten und seiner Musik aus. Interviews mit ihm sind eine Rarität. Das wirkt auf mich sehr kongruent, stark und ehrlich und ist – mit allen damit verbundenen Ecken und Kanten – dann auch noch sehr erfolgreich. Ein Glücksfall. Mensch und Künstler sind eine Einheit – und seine Fans akzeptierten das seit Langem. Er hat sich durchgesetzt und sie respektieren ihn und seine Persönlichkeit. 

Diese Haltung spiegelt nicht nur meine Einstellung gegenüber jedem Künstler, sondern auch jedem Menschen überhaupt  – und sie spiegelt dabei immer auch mein Verhältnis zu OUBEY.

OUBEY – Der Mensch im Künstler

Prominent oder nicht – ich sehe immer auch den Menschen im Künstler. 

Deshalb fiel es mir nie schwer, OUBEY genauso zu akzeptieren wie er war. Auch er war ein großartiger Künstler mit einem starken und unbeugsamen Charakter, ging konsequent seinen eigenen Weg. Er brauchte großen Freiraum für eigenes Denken und Tun und genauso brauchte er die liebevolle Rückendeckung eines Menschen – beides gab ich ihm gerne.

Ich liebe den Künstler und verehre ihn, doch ich sehe immer auch den Menschen, der Mitgefühl und Respekt verdient. Den übergriffige Penetranz in seiner freien Entfaltung einschränkt und der niemanden braucht, der sich neugierig in sein Leben drängen will. Darum war es umso schöner, dass OUBEY mich in sein Leben einlud und mich teilhaben ließ an seinem Werk.

 

 

„Marilyn Monroe – Die Unbekannte“, Ausstellung Historisches Museum der Pfalz in Speyer.

 

 

Photo credit: wikimedia/creative commons

Sie denken, das sei eine hypothetische Frage? Keineswegs. Denn dieser unbekannte Mensch war ich, zu Beginn des MINDKISS-Projekts.

Was aus meinen E-Mails dieser Art entstand, ist außergewöhnlich: Encounters mit OUBEY.

Camera on!

Die Idee der „Encounters“ ist folgende: Ein Mensch begegnet einem ihm bis dahin unbekannten Bild von OUBEY und erzählt, welche Gedanken und Gefühle dieses Bild in ihm hervorruft – vor laufender Kamera. Niemand weiß, welches Bild da kommt. Und das Bild bleibt so lange verhüllt, bis die Kamera läuft. Eine ganz neue Form der spontanen Interaktion zwischen Bild und Betrachter – frisch, unbefangen, ursprünglich.

Ich bin bis heute erstaunt und begeistert über die Gedanken, Erkenntnisse und Entdeckungen, die aus den 25 Encounters zu OUBEYs Bildern hervorgegangen sind. Der Paläoanthropologe Prof. Friedemann Schrenk vom Senckenberg Institut der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt zum Beispiel kam zu der Aussage, dass 7 Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte in diesem Bild stecken. Das ist eine beeindruckende Aussage, auf die weder ich noch irgendein anderer Mensch vermutlich je gekommen wäre – einzigartig und großartig.

Neue Dimensionen

Als ich mit den Encounters begann, war mir klar, dass diese Unternehmung mit ihren vielen und weiten Reisen zu Menschen auf der ganzen Welt ein großes und aufwendiges Projekt sein würde. Zugleich bot es eben diese großartigen, einzigartigen Möglichkeiten – für OUBEYs Kunst, aber auch für mein eigenes Leben.

Denn die Encounters sind nicht nur Begegnungen anderer Menschen mit einem von OUBEYs Bildern, sie sind immer auch spannende Begegnungen mit diesen interessanten Menschen für mich. Ich lernte Wissenschaftler und Forscher, Musiker, Tänzer und Extremsportler kennen und damit verbunden auch ganz neue Perspektiven auf OUBEYs Kunst. Mein Leben erweiterte sich in kürzester Zeit um viele Dimensionen.

Die MINDKISS Idee

Welche das sind und wie ich überhaupt auf die Idee des MINDKISS-Projekts kam, lesen Sie in meinem E-Book „MINDKISS: Auf OUBEYs Spuren“. Der Download ist kostenlos.

Als ich diese Nachricht las, freute ich mich, denn für mich ist klar: Kunst tut gut! Kunst hat eine wohltuende, ausgleichende Wirkung, kann Balsam für die Seele sein. Von Kunst berührt zu werden, ist etwas ganz Besonderes. Wenn man neueren Forschungen glauben darf, waren schon unsere Vorfahren in der Steinzeit fasziniert von der magischen Wirkung von Kunst – seien es die Töne und Klänge einer frühen Musik oder die Malereien an den Wänden von Höhlen.

Glücksgefühle

Und auch mir geht es heute so, wenn ich bestimmte Musikstücke höre oder die Gelegenheit habe, bestimmte Gemälde im Original anzuschauen wie zum Beispiel van Gogh´s „Kirche von Auvers“ oder Manet´s „Olympia“ im Pariser Musée d’Orsay. Auch wenn ich es nicht erklären kann, haben diese Bilder beim Betrachten eine tiefgehende Wirkung auf mich und erzeugen in mir dabei ein regelrechtes Glücksgefühl.

Das kommt Ihnen seltsam oder übertrieben vor? Vielleicht weil Sie so etwas mit einem Gemälde bisher selbst noch nicht erlebt haben. Dann denken Sie aber doch mal an ein Musikstück, das Sie lieben. Eine Ballade stimmt uns traurig, eine Arie weckt Sehnsüchte, der richtige Rhythmus animiert zum Tanzen und Singen befreit die Seele. Musik bringt uns zum Weinen, zum Lachen, zum Ausflippen, zum Nachdenken. Auf YouTube finden Sie unzählige Videos von Babys, die noch nicht mal richtig laufen können, aber schon freudestrahlend in ihren Windeln zur Musik wippen. Kunst weckt etwas, das ganz tief in uns drin liegt.

Spezies Kunstliebhaber

Geradezu ekstatisch reagieren oft selbst ganz kleine Babys auch, wenn man ihnen Bilder von farbenfrohen Gemälden zeigt. Diese Erfahrung habe ich auch schon mit OUBEYs Bildern gemacht. Die Babys strampelten und quietschten vor Freude und Begeisterung beim Anblick mancher Bilder. Da war ein richtiger Enthusiasmus zu spüren! Das allein wäre für mich schon Beweis genug dafür, dass Kunst nicht nur Kopfsache ist, sondern ganz viel mit unseren Energien und Gefühlen als Spezies zu tun hat – und das schon seit es diese Spezies gibt.

Kunst tut einfach gut. Kunst ist wichtig für unser Wohlbefinden und unsere Seele. Kunst weckt Emotionen, die ohne Kunst in unserem Alltag verborgen bleiben würden. OUBEY würde an dieser Stelle vielleicht die „Pathetique“ von Tschaikowsky auflegen, ich dagegen sein Klavierkonzert Nr.1 in B-Moll. Aber da ich gerade an Brian Wilson´s Album „Imagination“ denke, werde ich mir das jetzt wieder einmal anhören. Gute Kunst wird nie langweilig. Man kann sie immer und immer wieder anschauen und anhören und sie tut immer und immer wieder gut. Eine wunderbare Wirkung, die ich jedem Menschen auf der Welt wünsche – notfalls auf Rezept.

Eine weitere geniale Aktion des Künstlers Banksy, mit der es ihm gelingt, die absurden Mechanismen des kommerziellen Kunstbetriebs für alle erkennbar offenzulegen. Hierzu muss man wissen, dass Banksy als Streetart Künstler zwar großen Wert auf die Wirksamkeit seiner Graffitis und Aktionen legt, sich am Millionenspiel des Kunstmarkts jedoch nicht beteiligt. Seine Unabhängigkeit ist ihm wichtiger als Ruhm und Reichtum.

Umso verwunderlicher, dass nun „Girl with Balloon“ im Auktionshaus Sotheby´s versteigert wurde und just in dem Moment, als das Bild für einen dieser astronomischen Preise in den Besitz des Meistbietenden überging, durch die Selbstzerstörung wertlos wurde. Genau hier setzt Banksy´s entlarvender Geniestreich an: Wird ein zerstörtes Bild in diesem System zwangsläufig wertlos? Das Beispiel zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: es steigt in seinem Wert sogar noch erheblich an. Und so verwandelt sich das geschredderte Bild in eine Lupe, durch die die Absurditäten des kommerziellen Kunstbetriebs en detail und live betrachtet werden können.

Girl with Balloon – ein Testballon?

Sobald man sich als Künstler in dieses Spekulationssystem des Kunstmarkts hinein begibt, kann man sich seinen Wirkungsmechanismen kaum noch entziehen und läuft Gefahr, nach und nach seine innere Freiheit gegen Geld einzutauschen. Aus diesem Grund verkaufe ich OUBEYs Bilder nicht. Sie sind in größtmöglicher geistiger Freiheit entstanden. Diese Freiheit möchte ich ihnen und auch mir in meinem Tun erhalten. Sie brauchen keine materielle Wertschätzung, um ihren Wert als Kunstwerke zu beweisen. Klar, dass mir Banksy´s Haltung und die intelligente Konsequenz  seiner Aktionen sehr gut gefällt. Auch er arbeitet nicht für den Verkauf, sondern für Wirksamkeit und öffentliche Wahrnehmung.. 

Und wenn er ausnahmsweise doch einmal verkauft, dann entwickelt sich um den Verkauf eine aufklärerische Wirkung. So auch, als er einmal anonym an einem Stand im Central Park New York den Passanten Originale für 60 Dollar zum Verkauf anbot. Wer dort dem unbekannten Künstler ein Bild abkaufte, tat es nicht, um einen „Banksy mit Aussicht auf rasante Wertsteigerung“ zu erwerben, sondern aus Interesse und Sympathie. Banksy filmte die Aktion und veröffentlichte den Film – zum Ärger aller Kunsthändler, denen dieses einmalige Schnäppchen entgangen war. Sie hätten die Werke ohne Frage liebend gerne für Unsummen weiterverkauft.

Sein „Girl with Balloon“ hatte Banksy angeblich mit der Auflage verschenkt, dass es vom Beschenkten niemals verkauft werden darf. Ein Testballon, der zeigen sollte, wie stark die Gegenkräfte sind, um den Verlockungen des Kunstmarktes zu widerstehen. Gegenkräfte wie „Respekt vor dem Wunsch des Künstlers“, Wertschätzung für den Vertrauensbeweis dieses Geschenks“ oder auch einfach nur die „Liebe zur Kunst“.

Diese Kräfte waren offensichtlich nicht so stark wie die Anziehungskraft des Marktes, auf dem das Bild dann zur Auktionsware wurde.

Wertsteigerung durch Zerstörung 

So unterschiedlich der Charakter ihres Werkes ist – in ihrem Freigeist, ihrer Fähigkeit zur Autonomie und ihrer distanzierten Haltung zum Kunstmarkt sind OUBEY und Banksy sich sehr ähnlich. Beide haben sich den Wirkungsmächten des Kunstbetriebs entzogen. OUBEY tat es vor allem, um möglichst unbeeinflusst von äußeren Erwartungen die Bilder malen zu können, die in seinem Kopf entstanden. Banksy tut es, um mit seiner Arbeit diesen Kunstbetrieb zu entlarven und zu kritisieren und um seine Kunst dahin zu bringen, wo er ihren eigentlichen Platz sieht: unter die Menschen, die sich teure Kunst gar nicht leisten können. 

Wer meint, dass die Steigerung des Verkaufswerts von „Girl with Balloon“ nach der Zerstörungsaktion bedeutet, dass Banksy mit dieser Aktion sein Ziel verfehlt, ja sogar das Gegenteil erreicht hat, der irrt.

Denn gerade diese Wertsteigerung zeigt wie stark die Macht der Spekulation ist, und dass es nicht die Kunst ist, die hier im Vordergrund steht. Sondern dass sich der Markt die Kunst nach Belieben einverleibt. Selbst wenn sie zerstört ist. 

Banksy´s Inszenierung war perfekt. Sie macht auf einmalige Weise sichtbar wie der Markt funktioniert, wie er sich wendet und dreht, sich den Gegebenheiten anpasst und letztlich durchsetzt. Ob man das gut oder schlecht findet, steht auf einem anderen Blatt. Klar ist, dass es so ist. Das entlarvende Ziel ist erreicht. Alle Welt redet über die Aktion und wird sie wohl so schnell nicht vergessen.

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