Er ist ungefähr einhundert Jahre alt und wird Vladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben, der als Revolutionär in Russland einst den Boden bereitete für das ihm folgende totalitäre Kontrollsystem des Stalinismus, das auf paranoide Weise allen und jedem misstraute und unzählig vielen Menschen das Leben kostete.

Jedes Kontrollsystem basiert auf Misstrauen. Jede gute menschliche Gemeinschaft basiert auf Vertrauen. Manchmal ist Misstrauen angebracht und notwendig, manchmal ist es völlig fehl am Platz – wo verläuft die Grenze?

Die Sicherheit im Ungewissen

Dies in einer konkreten Situation herauszufinden, ist nicht immer einfach. Aber es ist wichtig, sich dieser Frage zu stellen und nicht im ersten Fall einer Unsicherheit sofort in den Kontrollmodus zu verfallen – sei es zwischenmenschlich oder gesellschaftlich. Ich kann nachvollziehen, dass viele Menschen sich heutzutage nach Sicherheit und einer damit verbundenen Kontrolle sehnen. Doch die entscheidende Frage in diesem Kontext ist, wann Kontrolle für unser Zusammenleben wirklich notwendig und angebracht ist und wann sie schadet.

Selbstkontrolle und Selbstvertrauen

Ich glaube, dass es für das ganze Leben beides braucht: Kontrolle UND Vertrauen. Das schließt für mich auch Selbstkontrolle und Selbstvertrauen ein. Wer sich selbst nicht vertraut, kann auch anderen nicht vertrauen. Wer sich selbst nicht kontrollieren kann, kann auch andere nicht sinnvoll kontrollieren.

Jahrelang war ich selbst Führungskraft im Top Management. Meine MitarbeiterInnen zu kontrollieren, hat für mich schon damals keinen Sinn gemacht. Ich wusste, dass sie ihr Bestes geben wollen und dass sie das nur können, wenn sie das entsprechende Vertrauen und einen eigenverantwortlichen Handlungsspielraum bekommen. Es ging nicht um Verhaltenskontrolle, sondern darum, dass am Ende das Ergebnis stimmt. So waren wir über viele Jahre hinweg gemeinsam sehr erfolgreich.

Menschen brauchen Vertrauen, um ihre Fähigkeiten entfalten und  eigenverantwortlich handeln zu können. Das sollten auch Eltern in der Erziehung ihrer Kinder nie vergessen. Die Führung durch entmündigende Kontrollsysteme in Unternehmen und Organisationen treiben dieses Vertrauen leider allzu oft aus. Hier herrscht oft noch das Gedankengut des frühen 20. Jahrhunderts.

Kontrolle gezielt einsetzen

Die Notwendigkeit von Kontrolle hängt zusammen mit der Frage von Sicherheit und Risiko. Möchte ich Qualitätssicherung in meinen Lebensmitteln? Natürlich. Möchte ich, dass der Straßen- und Flugverkehr zur Sicherheit des Allgemeinwohls kontrolliert wird? Auf jeden Fall. Möchte ich, dass Tiere gut leben und Müll korrekt entsorgt wird? Unbedingt. Möchte ich, dass die Klimaschutzziele eingehalten werden? Ja! 

Kontrolle ist also per se nichts Schlechtes. Doch nur durch das richtige Maß an den richtigen Stellen wird Kontrolle sinnvoll und nützlich. Hier gibt es für jeden einzelnen von uns, für die Zivilgesellschaft und auch für die Politik und Wirtschaft noch einiges zu korrigieren.

In diesen Tagen tauchen gerade sehr viele Wünsche nach Kontrollen und Verboten auf. Hier sollten wir alle gemeinsam sehr genau hinschauen und nicht auf Anhieb der nächsten Kontroll- oder Verbotsidee folgen. Manchmal muss es sein. Manchmal geht es aber auch viel besser auf dem Weg des Vertrauens. 

Mit offenen Augen durch die Welt 

Ich bin alles andere als ein Kontrollfreak. Aber ich bin auch kein Mensch, der blind vertraut. Ich schaue genau hin, sammle meine eigenen Eindrücke, hinterfrage und überprüfe meine Wahrnehmung und dann ziehe dann meine eigenen Schlussfolgerungen. Ich bin aufmerksam in allen Lebenslagen und lebe nicht nach dem Motto „Einmal vertraut ist immer vertraut“. Ich versuche für mich das richtige Maß zu finden.

Und mal ehrlich: Würde ich den ganzen Tag alles nur anzweifeln, kontrollieren und selbst machen wollen, wäre da gar kein Platz mehr für all die guten Ideen und Vorschläge anderer, die mich inspirieren und voranbringen und mit denen ich so gerne und gut vertrauensvoll zusammenarbeite. Das würde mir wirklich fehlen.

1983 befanden sich die Großmächte USA und Russland in einer Phase nuklearen Wettrüstens. Die Stimmung war angespannt und feindselig. Was geschah?

Alarmstufe „Rot“

Am Abend des 26. September 1983 meldete das System der sowjetischen Satellitenüberwachung einen Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR. Der ersten Meldung folgten in kurzen Abständen die Meldungen von vier weiteren Raketen.

Eine Explosion dieser amerikanischen Raketen auf russischem Boden würde hunderttausenden von Menschen das Leben kosten. Der Abschuss dieser Raketen durch einen sowjetischen Gegenschlag könnte zwar deren Explosion auf russischem Boden verhindern, würde jedoch mit Sicherheit einen darauf folgenden Angriff der USA auslösen und damit vermutlich einen atomaren Weltkrieg von unvorstellbar verheerendem Ausmaß. Eine Katastrophe schien unvermeidbar.

Was tun? Die Antwort auf diese Frage wurde nicht im Kreml gegeben, sondern vor Ort in der Kommandozentrale durch Oberstleutnant Stanislaw Petrow, den in dieser Nacht diensthabenden Offizier.

Gehorsam oder Mut?

Er ignorierte die Vorschriften genauso wie die Meldungen des Radarsystems.

Gehorsam zu verweigern ist keine einfache Sache und erfordert schon im alltäglichen Privat- oder Berufsleben innere Stärke und einen gewissen Mut. In totalitären Systemen wie der Sowjet-Union gilt solcher Mut als Widerstand, steht unter Strafe. Ist mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden, das Menschen, die in einem funktionierenden Rechtsstaat leben, zum Glück nicht kennen.

Doch innerhalb des Militärs gilt das Prinzip von Befehl und Gehorsam über alle politischen Systemgrenzen hinweg. Eine derart eigenmächtige Entscheidung auf der operativen Ebene wie die des Stanislaw Petrow am 23. September 1983 ist in keinem militärischen System dieser Welt vorgesehen. Ein US-amerikanischer Offizier hätte sich im umgekehrten Fall deshalb ohne Frage in einem ähnlichen Entscheidungskonflikt befunden.

Einsame Entscheidung

Stanislaw Petrow gab die Verantwortung nicht wie vorgesehen nach oben ab. Er blieb ruhig, dachte nach, kombinierte logisch und kam zu dem Schluss, an der Richtigkeit der Daten zu zweifeln. „Ich traue diesem Computer nicht“, sagte er und unternahm nichts.

Eine mutige Entscheidung, die vermutlich hunderten von Millionen Menschen das Leben gerettet hat. Denn er behielt Recht. Der Alarm, den er ignorierte, war tatsächlich ein Fehlalarm, ausgelöst durch einen sowjetischen Spionagesatelliten, der aufgrund fehlerhafter Software einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstart der USA interpretierte.

Ein fast vergessener Held

Die Peinlichkeit, dies zugeben zu müssen, wollte das „fehlerfreie System“ der UdSSR sich ersparen. Deshalb wurde Petrow nicht geehrt, sondern disqualifiziert, unehrenhaft aus dem Dienst entlassen und wäre in vollkommene Vergessenheit geraten, wenn das totalitäre System der Sowjet-Union Bestand gehabt hätte. Dank Perestroika und Glasnost kam der Fall jedoch ans Licht der Öffentlichkeit. Eine Rehabilitation hat es dennoch nie gegeben.

Petrow selbst sah sich nicht als Held. Für ihn war das, was er getan hatte, selbstverständlich. Obwohl er für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, erhielt er ihn nie. Doch dank einer ausführlichen Dokumentation ist sein Beispiel auch über seinen Tod hinaus lebendig geblieben.

Entscheiden ist Handeln in Unsicherheit

Petrows Entscheidung hätte auch falsch sein können. Nichts gab ihm in diesem Moment die Sicherheit, richtig gehandelt zu haben. Er traute seinem Verstand mehr als dem Computer. Wäre sie falsch gewesen, hätte das genau die verheerenden Folgen gehabt, die er mit seiner Entscheidung verhindern wollte. Eine Garantie gab es nicht. Heute wissen wir, dass seine Entscheidung richtig war und sind dankbar.

Das Schwierige an jeder anspruchsvollen Entscheidung ist, dass sie immer einen Rest an Unsicherheit in sich trägt. Denn wie richtig oder falsch eine Entscheidung war, stellt sich erst heraus, wenn die Folgen – früher oder später – erkennbar und spürbar werden. Die Folgen sind irreversibel.

Wer frei entscheidet, wer auf sich, sein selbständiges Denken und seine eigene Perspektive vertraut, statt sich blind auf Richtlinien und Vorschriften zu verlassen, der begibt sich auf unsicheren Grund. Da trägt kein Regelwerk mehr.

Also lieber auf der sicheren Seite bleiben?

Eine halbe Antwort auf eine schwergewichtige Frage

Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich selbst geben. Doch die Geschichte ermutigt uns durch das Beispiel unzähliger kleiner wie auch zahlreicher großer Beispiele mutiger und richtiger Entscheidungen – vom bei der Wahrheit bleiben trotz öffentlichem Druck bis zum zivilen Ungehorsam; von der Verweigerung militärische Befehle auszuführen, die gegen Menschenrecht und Genfer Konvention verstoßen bis hin zur ebenso machtbewussten wie konsequenten Entscheidung eines amerikanischen Präsidenten in der Kubakrise 1961.

Fortschritt wie Rückschritt auf dieser Welt beruhen auf Entscheidungen – im Kleinen wie im Großen. Jeder Mensch trifft jeden Tag Entscheidungen, die Auswirkungen auf andere haben. Jeder trägt die Verantwortung für das, was er denkt und tut. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist genug. Finden Sie nicht auch?

Sich das immer wieder klar und bewusst zu machen, ist schon die halbe Antwort auf die schwergewichtige Frage vom Ende des vorigen Abschnitts. Finde ich.

Kinderkram

Es gab eine Zeit, in der galten Comics unter Erwachsenen bestenfalls als Kinderkram, unter strengen Pädagogen als minderwertiger Schund. Dank meiner Mutter, die für mich irgendwann die „Micky Maus“ abonnierte, hatte ich entgegen dem damaligen Zeitgeist jahrelang das Vergnügen, jede Woche ein neues Heft im Briefkasten zu finden, das ich mit größtem Vergnügen las. Das habe ich ihr bis heute nicht vergessen.

Es war die Zeit, in der die Trennungslinie zwischen „E“ und „U“, also zwischen ernsthafter Kunst einerseits und vergnüglicher Unterhaltungskultur andererseits streng gezogen wurde. Vor allem, wenn die Unterhaltung aus Amerika kam. Der trivial-unterhaltsame Bereich, zu dem neben Comics auch die englischsprachige Pop- und Rockmusik gehörten, wurde ausgegrenzt und fand seine Heimat zunächst nur in den eigenen Welten der Jugend – und der Subkultur.

Kunst

Inzwischen haben Comics nicht nur längst Einzug in die Erwachsenenwelt gehalten, sondern sind auch – zurecht wie ich finde – als Teil der Kultur und Ausdrucksform von Kunst anerkannt. OUBEY sah das schon immer so. Seine Comic Sammlung war schon immer beachtlich und wuchs im Laufe der Jahre kontinuierlich an. Darin finden sich unter anderen auch viele der wunderbaren Publikationen des Zeichners Jean Giraud, der sich selbst Moebius nannte, sowie die Bände der japanischen Comic Serie „Akira“. Sie zeichnen sich nicht nur durch ihre herausragende zeichnerische Qualität aus, sondern ebenso durch die philosophischen Themen, die in Geschichten wie „Die luftdichte Garage“ behandelt werden. Der Band „Zu den Sternen“, dessen Coverbild Sie im Header dieses Beitrags finden, ist „eines der faszinierendsten Science Fiction Abenteuer, die Moebius je zu Papier gebracht hat“, kommentierte der Verlag bei dessen Veröffentlichung. Moebius wurde hierfür im Jahr 1984 vom französischen Kulturminister Jack Lang mit dem Großen Staatspreis Frankreichs für Graphische Künste ausgezeichnet.

Kommerz

Spätestens seit Stan Lee die Comic-Helden der Marvel-Welt auf die große Leinwand brachte, gehört das Genre zum Mainstream. Heute kommt kaum ein Kinogänger mehr an ihnen vorbei. Und mit dem zugehörigen Merchandising werden Milliarden erwirtschaftet. Stan Lee, ein Superheld des Marketing. Ist es allein dem gekonnten Marketing eines Stan Lee zuzuschreiben, dass die einst verpönten Comics nicht zuletzt dank ihrer aufwendigen Verfilmungen zum „Kulturgut“ wurden?  

Eine uralte Sehnsucht

Wohl auch, aber da gibt es aus meiner Sicht noch einen anderen, tieferliegenden Grund. Die Grenzen haben sich aufgeweicht, das Denken wurde offener und die Sehnsucht der Menschen nach fabelhaften und fantastischen Heldengeschichten hat in vielen Comics eine neue Ausdrucksform gefunden. 

Diese Sehnsucht ist nicht neu. Sie fand ihren Ausdruck bereits in den alten Götter- und Heldensagen und zeigt sich heute, im Spiegel der Zeit, in neuem Gewand. Der Fantasie, die in diesen unwahrscheinlichen Geschichten mit ihren unverwüstlichen Helden lebendig wird, liegt ein Bedürfnis nach der Unbesiegbarkeit des Guten zugrunde. Dieses Bedürfnis wird in den Comics auf sehr unterhaltsame Weise befriedigt. Die rationale aufgeklärte Welt findet hier ihren vergnüglichen Gegenpart, der gelegentlich auch durchaus politische Anspielungen enthält. Das gilt übrigens nicht nur für die sich irgendwie alle ähnelnden Helden der Marvel Comics. Das galt und gilt auch noch immer für sehr viele andere Comic-Serien, die vielleicht etwas in die Jahre gekommen sind wie z.B. Asterix & Obelix oder das ebenso winzige wie allgewaltige Marsupilami.

„Aber was daran ist nun Kunst?“ werden Sie vielleicht fragen. 

Freiheit der Fantasie

Diese Frage werde ich hier sicher nicht beantworten können. Aber ich sehe Gemeinsamkeiten zwischen dem, was Kunst genannt wird und dem, was man Comic nennt. 

Die Idee, diesen Beitrag zu schreiben, kam in einem Gespräch auf, das ich vor einiger Zeit mit jemandem über OUBEY führte. Aufgrund der zum Teil sehr tiefgründigen, vielschichtigen Bilder und Zeichnungen, die er von OUBEY kannte, war er sehr erstaunt, als ich im Gespräch irgendwann erwähnte, dass OUBEY auch gerne mal Comics zeichnete.  

Bereits als Schüler verfasste und produzierte er selbst eine eigene Comicserie: „Die Abenteuer des André Noir“. Da es damals noch keine öffentlichen Kopiergeräte gab, er aber möglichst viele Exemplare herstellen und verkaufen wollte, zeichnete er jedes einzelne Heft mit der Hand.   

In der Kunst ist alles möglich. Das gilt ganz besonders auch für Comics. Hier werden neue Wesen, neue Welten und neue Universen geschaffen und visualisiert. Das Denken bekommt Flügel und entführt sich selbst in den freien Raum der Fantasie. Wenn ich mir manche Bilder und Zeichnungen von Paul Klee anschaue, der ohne Frage ein wirklich großer Künstler war, dann wird der Zusammenhang für mich klar erkennbar. Mit einem Teil von OUBEYs Werken geht mir das genauso.

Aus meiner Sicht ist es ein Fortschritt, dass die Grenzen nicht mehr so dogmatisch gezogen werden. Kunst erweitert ihr Spektrum und das, was Spaß macht, wird nicht mehr per se ausgegrenzt.

Starre Grenzen sind für den Geist eine Herausforderung, die er überwinden will. Dass das immer wieder und immer öfter gelingt, finde ich sehr gut, sehr erfrischend und eine wertvolle Entwicklung.

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Headerfoto: Moebius – Zu den Sternen (Cover), Schwermetall Band 5, 1987

Wann ist ein Mensch jung? Wann ist ein Mensch alt?

Ludmilla Larusso, inzwischen über 50, wirkte jung, als sie da auf der Bühne stand und sang. Wie kann das sein? Es war Ihre Ausstrahlung, ihre Stimme, vor allem aber auch ihre spürbare Freude und Begeisterung an dem, was sie tut. Dagegen sieht manch einer, obwohl er um einige Jahrzehnte jünger ist als sie, regelrecht „alt“ aus. Wie kann das sein?

Für mich hat Alter nicht allein mit der Summe an Lebensjahren zu tun. Die Frage nach dem Alter ist eher eine Frage der inneren Einstellung. Und ist diese Einstellung von Neugier und Unternehmungslust geprägt, von dem Gedanken, dass es nie zu spät ist, etwas Neues zu entdecken, dann entsteht eine Energie, die den Menschen jung macht – ob er nun 15 ist oder 50.

Und was ist mit den biologischen Hardfacts? – werden Sie vielleicht zurecht fragen. Klar, spielen auch die eine Rolle und manches kann man mit steigender Lebenszeit nicht mehr so gut wie das mit zwanzig oder dreißig noch der Fall war. Aber glücklicherweise sind wir Menschen ja Individuen und als solche fähig, der puren Biologie mit einer inneren Einstellung zu begegnen, die dazu führt, dass unsere Leben eben nicht mit 50 oder 70 Jahren vorbei sein muss. 

Einladung zur Neugier

Es gibt Menschen, die – obwohl noch jung an Jahren – ihr Leben bereits bis zur Rente im Kopf durchgeplant haben und alles, was nicht in diesen Plan passt, ignorieren. Das ist doch zielstrebig und ganz vernünftig, meinen Sie? Das sollte man doch nicht kritisieren? 

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich kritisiere das nicht. Jeder kann und soll so leben wie es ihn zufrieden macht und wie er es für richtig hält, solange er anderen Menschen dabei nicht schadet. Ich denke allerdings, dass man sich auf diese Weise selbst um einige schöne Möglichkeiten bringen kann, die das Leben lebendig und überraschend machen. Was bleibt, sind dann oft nur die Überraschungen, mit denen das Leben uns konfrontiert und auf die wir dann oft hilflos reagieren, weil sie den einst gefassten Plan über den Haufen werfen.

Neues zu versuchen und sich selbst zu überraschen ist für mich eine wichtige Konstante im Leben. Natürlich immer erst einmal prüfen, ob man sich etwas tatsächlich zutraut bzw. ob man etwas wirklich will. Aber wenn das der Fall ist, dann sollte man es einfach versuchen. Wenn es misslingt, dann hat man es wenigstens versucht. Ich möchte mich am Ende meines Lebens möglichst nicht fragen müssen, warum ich die schönen Möglichkeiten, die sich mir geboten haben, nicht genutzt habe. Deshalb habe ich mir immer die Freiheit geschenkt, Neues anzupacken, wenn sich eine passende Möglichkeit ergab, und habe es bis heute nie bereut.

Eine leere Leinwand ist wie der Aufruf zu etwas Neuem

Und ich mag Menschen, die das auch tun. Ein Künstler muss gewissermaßen mit jedem Bild „neu anfangen“. Manche malen zwar ganze Serien, aber dennoch ruft eine leere Leinwand immer wieder zu etwas Neuem auf.  Das habe ich im Zusammenleben mit OUBEY über einundzwanzig Jahre aus nächster Nähe miterlebt. Wenn OUBEY nicht bereit und in der Lage gewesen wäre, immer wieder ganz neue Wege zu gehen als Künstler, wäre das Werk, das er hinterlassen hat, nicht so interessant und vielfältig wie es ist und würde heute gewiss nicht so viele Menschen auf der ganzen Welt faszinieren und begeistern. Bei ihm rief jede Antwort die nächste Frage hervor. In der Kindheit verhalten sich fast alle Menschen so. Wenn sie erwachsen werden, lässt das oft nach, weil sie glauben, alle Antworten zu kennen – zumindest die wichtigen. Das ist ein Irrtum. Denn niemand kennt jemals alle Antworten. Staunen und Entdecken ist ebenso wichtig wie Wissen. 

Mit dem Herzen sehen

So kommt es, dass eine Ludmilla Larusso bei „The Voice of Germany“ nicht nur das begeisterte Publikum in Erstaunen versetzte, sondern auch die aufmerksamen Coaches. Vielleicht hat es geholfen, dass sie bei dieser Show mit dem Rücken zur Bühne sitzen und nicht sehen, wie alt oder jung, groß oder klein, dick oder dünn, hübsch oder weniger hübsch ein Kandidat ist. Sie wissen nicht wie dieser Mensch aussieht, sie hören nur den Gesang. Und mit ihrem Gesang erreichte Ludmilla die Herzen. Ein schönes Beispiel für die Richtigkeit dessen, was Antoine de Saint-Exupéry einmal sagte: Man sieht nur mit dem Herzen gut. 

Alter ist nicht das Ergebnis einer Rechenaufgabe. Alter ist eine Frage der Lebendigkeit, Offenheit und Neugier – im Herzen und im Kopf. Es ist immer möglich, noch etwas dazu zu lernen, zu erleben, zu entdecken. Neugier ist ein Elixier, das Lust aufs Leben macht und deshalb jung hält. 

Selbst der unspektakuläre Plan, einen Abend in Ruhe mit einem Buch zusammen auf der Couch zu verbringen, kann dahin sein, wenn plötzlich jemand vor der Tür steht oder anruft und meine Aufmerksamkeit fordert. Das Leben lässt sich nicht planen! Wozu also Pläne machen?

Lebenszeit ist wertvoll

Nun haben Sie vielleicht den Einwand, dass es wichtig ist, nicht planlos in den Tag hinein zu leben, denn Zeit ist kostbar und sollte nicht verschwendet werden. Das sehe ich genauso. Deshalb finde auch ich es gut und wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wie man seine Zeit nutzen und womit man sie verbringen will. Dazu gehört manchmal auch das Planen. Allerdings sollte man dabei nie vergessen, dass es ein Wesensmerkmal der Zukunft ist, dass sie nicht wirklich vorhersehbar und deshalb auch nicht wirklich planbar ist. Niemand weiß, was in der nächsten Stunde oder am nächsten Tag geschehen wird. Immer wieder hält das Leben für uns Überraschungen bereit – wunderbare Glücksfälle ebenso wie harte Schicksalsschläge. Sie können einen aus der Bahn werfen, aber als Herausforderung auch unverhofft neue Möglichkeiten aufzeigen. 

Das Leben ist stärker als jeder Plan

In meinem Leben gab es von Kindesbeinen an jede Menge positiver und negativer Überraschungen, aus denen ich lernen konnte, dass solche eben zum Leben gehören. Besonders bewegend war es für mich, als Kind mitzuerleben, wie sich durch den Bau der Berliner Mauer und die Errichtung der Todesstreifen an den Grenzen zwischen Ost- und Westdeutschland von einem Tag auf den anderen für Millionen von Menschen das Leben existenziell veränderte. 

In Berlin entschieden sich damals Menschen von einer Minute auf die andere, mit nichts außer dem was sie am Leib trugen aus einem Fenster im 3. Stock in ein Sprungtuch und damit in ein unbekanntes neues Leben im Westen zu springen. Andere blieben zurück und mussten fortan  jahrzehntelang getrennt von ihren Freunden und Verwandten im anderen Teil der Stadt und des Landes leben. Für meinen Vater, der aus Berlin stammte, bedeutete das den Verlust des Elternhauses. Das Haus, das er mit seinen Eltern gemeinsam Jahrzehnte zuvor im Osten der Stadt erbaut hatte, und in dem ich bis dahin jahrelang unvergesslich schöne Sommerwochen mit meiner Großmutter verbracht hatte, war verloren.

YOLO – You only live once

Zu sehen, wie Menschen gewaltsam voneinander getrennt werden und wie ein Land auseinandergerissen wird, war eine schockierende Erfahrung für mich. Was ist überhaupt sicher? Genau diese Frage stellte sich mir schon damals. Wie kann ein Mensch eine dramatische Veränderung dieser Art verarbeiten? Menschen in anderen Ländern und Kontinenten erleben solche Zustände viel öfter als wir und immer und immer wieder, wenn sie in Kriege hineingeraten oder von Naturkatastrophen heimgesucht werden. Extreme Realitäten, die das Leben ohne eigenes Zutun schafft und die durch keinen Plan ausgeschaltet werden können. 

Natürlich kann man dieses Bewusstsein nicht permanent im Kopf haben. Dennoch finde ich es wichtig, sich nicht in der vermeintlichen Sicherheit einer planbaren Zukunft zu wiegen, an die wir uns in den letzten Jahrzehnten des Wohlstands und Friedens scheinbar gewöhnt haben. Unsicherheit gehört nunmal zum Leben dazu! Deshalb ist es gut, sich einen persönlichen Kompass zuzulegen, mit dessen Hilfe man sich durch die Wellen der Unvorhersehbarkeiten des Lebens navigieren kann. Denn es ist genau dieses Leben, das wir nur ein einziges Mal leben können.

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