Schönheit als vollkommene äußere Gleichheit

Diesem Prinzip folgen die Baurichtlinien in Alpbach und genau dadurch unterscheidet sich der Ort von allen anderen Dörfern Österreichs. Das ist paradox: Denn durch die strikt angeordnete Gleichheit der Fassaden wird der Ort zu etwas Besonderem. Alpbach ist anders, weil alles dort gleich ist. Diese Einzigartigkeit hat den Ort berühmt gemacht hat und lockt jede Menge Besucher an.

Aber wo bleibt das Individuelle in dieser unwirklichen äußerlichen Schönheit? Die Individualität der Menschen, die in diesen Häusern leben, spielt sich ausschließlich hinter den Kulissen ab. Eine seltsame Welt, die mich irgendwie an die Künstlichkeit der Kulissen von Disneyland erinnerte.

Schönheit als Abweichung vom Immergleichen

Als ich dann über den kleinen Friedhof des Ortes spazierte, konnte ich kaum glauben was ich sah. Er gleicht einem Wald aus kunstvoll gefertigten schmiedeeisernen Grabmälern, von denen eins so aussieht wie das andere. Alle gleich hoch und gleich breit – nur die Namen und Fotos der Verstorbenen machen einen Unterschied. Gleichheit nach außen bis in den Tod.

Doch dann kam ich an ein Grabmal, das den anderen zwar ähnlich, aber doch nicht gleich war. Es war das Grabmal des österreichischen Nobelpreisträgers Erwin Schrödinger, einem der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, von dessen geistiger Leistung sowohl OUBEY als auch ich schon immer sehr beeindruckt und begeistert waren. An diesem Ort zu sehen, dass man doch immerhin der genialen Ausnahmeerscheinung eines Erwin Schrödinger Respekt zollt, indem man seiner Grabstätte ein Abweichen vom Immergleichen zugesteht, hat mich ein wenig beruhigt. Für einen wie ihn hatte man selbst in Alpbach eine Ausnahme gemacht. Schönheit war in diesem Augenblick für mich der Ausblick auf die Möglichkeit von Individualität.

Schönheit als Ausdruck des Respekts

Äußere Gleichförmigkeit kann als schön empfunden werden, sie kann aber auch unschöne oder sogar hässliche Gestalt annehmen. Verglichen mit den deprimierenden Fassaden vieler moderner Wohn- und Zweckbauten in Großstädten wirkt die äußerliche Gleichheit der Häuser von Alpbach geradezu wie eine beglückende Wohltat fürs Auge. Umgekehrt wird etwas nicht automatisch schön, nur weil es individuell ist oder von der Norm abweicht. 

Was also ist Schönheit? Diese Frage haben sich klügere Menschen als ich schon zu allen Zeiten gestellt. Aspekte von Schönheit werden durch die Ästhetik, durch Naturwissenschaft und Geometrie und auch durch manche Erkenntnisse der Psychologie definiert. Was ein Mensch subjektiv als schön empfindet, folgt wohl immer auch ein Stück weit diesen Definitionen, ist dabei aber auch immer subjektiv. Was der eine schön findet, findet der andere möglicherweise alles andere als schön. Das ist gut so. Denn es ist Ausdruck menschlicher Individualität. 

Auf dem Friedhof in Alpbach beugte sich das Prinzip der absoluten Gleichheit dem Respekt vor der genialen Individualität eines einzelnen Menschen und machte für ihn eine Ausnahme. Genau das hat mir in diesem Moment wieder einmal klar gemacht, dass der Respekt vor dem Individuum die Voraussetzung dafür ist, dass eine Schönheit entstehen kann, die auf Vielfalt basiert. Und dieser Respekt gebührt selbstverständlich jedem Menschen und nicht nur einem weltberühmten Nobelpreisträger. 

Wenn Architekten, Städtebauplaner, Landschaftsgestalter und Designer aller Art sich diesen Grundsatz zu Eigen machen würden anstatt nackte Funktionalität und minimale Kosten bei maximaler Effizienz zu verfolgen, wäre die Lebensumgebung vieler Menschen heute mit Sicherheit zumindest weniger unschön als dies derzeit der Fall ist.

Der großartige Designkünstler Stefan Sagmeister, der übrigens auch das preisgekrönte MINDKISS Buch über OUBEYs Kunst gestaltet hat, eröffnet demnächst in Wien eine Ausstellung zum Thema „Beauty“. Die werde ich mir auf jeden Fall anschauen. Vielleicht komme ich dort zu neuen Erkenntnissen, die ich an dann gerne im Social Web oder an dieser Stelle wieder mit Ihnen teile.

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