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Corona – Ein Virus und seine Folgen

Wir Menschen neigen dazu, uns für die Herrscher auf diesem kleinen Planeten im großen Universum zu halten. Doch hin und wieder tauchte in unserer Geschichte ein mikroskopisch kleines Wesen auf, das uns daran erinnerte, dass dem nicht so ist. Genau das erleben wir in diesen Tagen und Wochen als Menschen auf der ganzen Welt. Eine Krise wie wir sie bisher nicht kannten. Und doch liegt in ihr, wie in allen Krisen, auch eine Chance.

Bis vor kurzem konnten wir uns darauf verlassen, dass es nahezu immer einen wirksamen Gegenstoff gibt, der solche Viren unschädlich macht. Das ist im Fall des Corona Virus nun seit langer Zeit zum ersten Mal anders.

 

Eine Geschichte von Macht und Ohnmacht

Erst seit rund einhundertzwanzig Jahren hat die Medizin Jahr für Jahr an neuen Impfstoffen und Medikamenten gegen nahezu alle bekannten Viruserkrankungen gearbeitet und immer wieder neue und noch bessere Präparate entwickelt. So sind Krankheiten wie zum Beispiel die Tuberkulose, an der Anfang des 20. Jahrhunderts noch Abertausende allein in Deutschland gestorben sind, von der Bildfläche verschwunden.

In früheren Jahrhunderten rafften ansteckende Krankheiten innerhalb kürzester Zeit zigtausende von Menschenleben hinweg. Eine Seuche wie die Pest löschte in ihrer Hochzeit dereinst nahezu die Hälfte der Bevölkerung Europas aus. Eine Erfahrung kollektiver Ohnmacht, die jeden erfasste, gleich welchen Standes einer war.

An die Stelle medizinischer Hilfe, die es damals nicht gab, trat einerseits der Glaube, dass es sich bei derartigen Seuchen um eine Strafe Gottes handelt. Andererseits kam die Idee von einem Schuldigen auf dieser Erde auf, den es zu suchen und zu finden galt. Hier fand in dieser Zeit unter anderem auch die Dummheit des Antisemitismus neue Nahrung. Aus der Ohnmacht gegenüber der Seuche erwuchs das Machtbedürfnis gegenüber einem Feind – den vermeintlichen „Brunnenvergiftern“, die es anzuprangern und zu bestrafen galt.

Dass Albert Camus, einer der großen Philosophen und Schriftsteller der 40er bis 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, seinen Roman „Die Pest“ genau diesem Thema gewidmet hat, verweist auf die existenzielle und soziale Bedeutung dieser Seuche, wenngleich er vor dem Hintergrund des gerade beendeten Zweiten Weltkriegs und der im ideologisch begründeten Fanatismus begangenen Verbrechen des Faschismus hier im übertragenen Sinn auch das Thema der geistigen und moralischen Infizierung einer Gesellschaft trifft.

 

Eine neue Herausforderung

Schuldzuweisungen dieser Art kennen wir heute bisher jedenfalls glücklicherweise nicht, wenngleich es kürzlich den seltsam irrationalen Versuch eines Präsidenten gab, gleich ganz Europa – mit Ausnahme Großbritanniens und Irlands – dafür verantwortlich machen zu wollen, dass das Corona Virus ins eigene Land eingereist ist. Dieser Versuch ist an seiner erkennbaren Irrationalität gescheitert.

Rational erkennbar ist, dass uns derzeit nun ein Virus herausfordert, das sich anders verhält als alle Viren, die wir zuletzt kannten, indem es sich unerkannt verbreitet, d.h. es sucht Körper auf, die dann keine Krankheitssymptome zeigen, obwohl sie infiziert sind. Die aber wohl dazu in der Lage sind, andere zu infizieren, deren Immunsystem nicht stark genug ist, um zu widerstehen. Ein Mensch ohne Symptome kann also infiziert sein und einen anderen anstecken. Wenn dessen Immunsystem nicht stark genug ist, erkrankt dieser Mensch, schlimmstenfalls mit tödlicher Folge. Genau diese zunächst harmlos scheindende Einnistung und die daraus resultierende Verbreitung macht dieses Virus so gefährlich, möglichst viele so lange wie möglich im Gefühl der eigenen Sicherheit wiegend.

 

Möglicher Schwachpunkt: Die Dummheit der Vielen

Bislang gibt es weder ein Medikament noch einen Impfstoff gegen dieses Virus. 35 Labore forschen derzeit mit Hochdruck weltweit daran, einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln. Bis der einsatzbar ist, wird allerdings vermutlich ein Jahr vergehen. Insofern können wir von Glück reden, dass dieser Virus nicht jeden erkranken oder gar sterben lässt, den er befällt.

Es ist, wenngleich es mächtig in unser Leben eingreift und uns extrem herausfordert, ein eher freundliches Virus. Ein Virus, das nicht gleich jeden umbringt, den es befällt. Eines, das uns eine Chance lässt. Ein Virus, das uns nicht per se aufgrund seiner Wirkungsweise in Panik versetzt. In Panik versetzen können wir uns nur selbst, indem wir sein gefährliches Potenzial ignorieren und uns so verhalten als gäbe es diese Bedrohung gar nicht.

Wenn ich sehe, dass letzten Sonntag entgegen allen Empfehlungen die Menschen immer noch dicht an dicht in den Eiscafés und Restaurants gesessen oder vor zehn Tagen noch im Skiurlaub in Ischgl fröhliche Parties gefeiert haben, obwohl damals längst bekannt war, dass der Ort ein Infektionsherd der Sonderklasse ist – dann zweifle ich am Verstand und der Vernunft der Vielen.

Es wurde so viel von der “Schwarmintelligenz” der Vielen gesprochen und geschrieben in den letzten Jahren. Hier kann sie sich nun mal wirklich beweisen. Wir können diesem Virus etwas entgegensetzen. Aber wir müssen es wollen. Wir müssen alle anderen, verständlichen und berechtigten Interessen diesem Interesse unterordnen. Es hilft uns kein Medikament. Uns hilft nur unser eigenes intelligentes Verhalten.

 

Kollektive Disziplin im Zeitalter des Individualismus

Dieser exponentiell wachsende, um sich greifende Prozess der Ansteckung kann nur durch kollektive Disziplin gebremst werden. In einer Gesellschaft der Individualisten, die gewohnt sind in Freiheit zu leben und dass alles was auch immer sie brauchen oder sich wünschen grundsätzlich verfügbar ist, bedeutet dies nicht nur gravierende Einschränkungen im Alltagsleben wie es sie seit Ende des 2. Weltkriegs in Deutschland und nirgendwo in Europa gegeben hat. Es bedeutet ein radikales Umdenken. Und das quasi aus heiterem Himmel.

Denn dieses bösartige mikroskopisch kleine Teil wirft uns auf Fragen zurück, die viele sich vielleicht lange nicht mehr und manche vielleicht noch nie ernsthaft gestellt haben. Fragen wie z.B. „Was ist wirklich wichtig in meinem Leben?“, „Was brauche ich wirklich?“, „Halte ich es aus, zwei Wochen allein zu sein?“, „Kann und will ich Rücksicht auf andere nehmen?“ und nicht zuletzt „Wie beschäftige ich mich mit meinen Kindern über Tage und Wochen hinweg sinnvoll?“.

Auf einmal sind wir gezwungen und haben in der Quarantäne auch die Zeit, uns diesen Fragen zu stellen. Und wir können sie ja auch selbst beantworten. Das ist, aus meiner Sicht, ein Aspekt des Guten und der Chance in dieser Krise. Der schwierigere Teil der Bewältigung des Notstands liegt in der Frage der Existenzsicherung, insbesondere für Selbständige, deren Einnahmequellen nun auf nicht absehbare Zeit versiegen.

 

In der Krise zeigt sich der Charakter

Herausgefordert sind in Zeiten wie diesen deshalb nicht nur Medizin, Politik und Verwaltung, sondern auch Vernunft gepaart mit Herz, und das von einem jeden von uns. Panik ist kontraproduktiv. Wir brauchen Vorsicht für uns selbst, aber auch Umsicht und Rücksicht für einander im Alltag. Jeden Tag. “In der Krise zeigt sich der Charakter” sagte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal und er wusste wovon er sprach.
Wer glaubt, auf dem Vulkan tanzen zu müssen, in dieser Zeit nicht aufs Händeschütteln und Umarmen verzichtet oder in der Schlange nicht den Mindestabstand einhält, sondern drängelt; wer so tut, als sei er oder sie nicht betroffen oder gefährdet, zugleich aber die Regale leer kauft, der verkennt die Situation und hat nichts verstanden.

 

Respekt vor den Helden der Krise

Vor allem aber trägt er indirekt dazu bei, dass die Menschen, die in unseren Krankenhäusern tätig sind, in ein paar Tagen oder Wochen, wenn die Zahl der Schwererkrankten drastisch ansteigt, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommen werden. Und dann möglicherweise Entscheidungen treffen müssen, die kein Mensch in seinem Leben jemals treffen müssen sollte – wer Freunde oder Verwandte in Italien hat, weiß, wovon ich hier spreche. Sie sind die Helden dieser Krise und verdienen schon längst, aber heute mehr denn je, unseren größten Respekt. Und in Zukunft dann hoffentlich auch im wahrsten Sinne des Wortes die Wertschätzung ihres Tuns. Eine Corona-infizierte Frau, die sich zur Behandlung im Krankenhaus befindet, schrieb vor ein paar Tagen auf Twitter, dass sie allen ihren Pflegerinnen und Pflegern die Füße küssen wird, wenn sie hier gesund wieder rauskommt.

Am Ende dieser Zeit, wie lange sie auch immer dauert, wird vieles anders sein als jetzt und manches hoffentlich besser.

More Dagmar Woyde-Koehler

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