In der Kombination aus dem allen neigen wir dazu, das, was groß, laut und sichtbar ist, in seiner Bedeutung für uns zu überschätzen und das, was klein, unhörbar und unsichtbar ist, in seiner Bedeutung für uns zu unterschätzen.

Wenn man sich die technologische und industrielle Entwicklung der letzten 250 Jahre anschaut, und hierbei dann insbesondere die der letzten zwanzig Jahre ins Auge fasst, dann gewinnt dieser Sachverhalt eine brisante Bedeutung.

Als ich einmal mehrere Stunden im „Museum of Science and Industry“ in Manchester verbrachte, wurde meine bisherige Vorstellung von dem, was die „Erste industrielle Revolution“ in Europa, insbesondere und zuerst in England vor 150 bis 200 Jahren genannt wird, auf eine neue Erlebnisbasis gestellt.

Gigantische Maschinen, mehrere Meter hoch und viele Meter lang, angetrieben zunächst durch Dampf, später durch elektrische Energie, reihen sich dort in der riesigen „Power Hall“ aneinander. Es sind ausgewählte gut erhaltene Exemplare, die repräsentativ für hunderte ihrer Art stehen, die damals in den sich ausbreitenden Fabriken immer öfter zum Einsatz kamen.

Wie mag der Anblick solcher Maschinen wohl auf Menschen im 19. Jahrhundert gewirkt haben, die nie zuvor etwas Ähnliches gesehen hatten? Die bis dahin eigenständig ihr „Handwerk“ verrichtet hatten – sei es in der Landwirtschaft, in ihrer eigenen Werkstatt oder in einer Manufaktur. Wie fremdartig und furchterregend muss die erste Begegnung mit dem monströsen Getöse von Maschinen dieser Art gewesen sein und wie lange mag es gedauert haben, bis Menschen sich an diese neue Substanz in ihrem Leben gewöhnt hatten – ganz unabhängig von den damit verbundenen Arbeits- und Lebensverhältnissen, für die bis heute der Begriff des „Manchester Kapitalismus“ steht.

Diese Veränderung war radikal und sie war brutal. Vor allem aber war sie substanziell physisch erlebbar. Was sich veränderte, war sichtbar, laut und groß und insofern entsprach es dem Wahrnehmungssystem des Menschen wie er es seit zigtausenden von Jahren entwickelt hatte. Eine gigantische Dampfmaschine war als das erkennbar, was sie ist.

Heute stehen wir am Beginn einer anderen Revolution, in der eine neue Art von Technologie und Maschinen herrschen. Das sind nicht mehr die großen sichtbaren Ungetüme, die Dampf und Hitze verbreiten und uns ihren Rhythmus aufzwingen. Es sind Algorithmen, unsichtbare, unhörbare, aber ungeheuer wirkungsvolle Mechanismen, auf die unser Wahrnehmungssystem nicht eingerichtet ist. Virtuelle, substanzlose Welten entstehen. Wir erkennen sie nicht auf den ersten Blick als das was sie sind. Sie zwingen uns nicht, sie verführen uns. So tappen wir von einer Falle in die nächste und fühlen uns dennoch frei und gut in der vermeintlichen Komfortzone.

Unsere Spezies hat sich eine Welt geschaffen, die von zunehmendem Substanzverlust lebt. Was aber bedeutet das? Hier kommt der Philosoph Ludwig Wittgenstein ins Spiel, dem dieser Beitrag seinen Titel verdankt: „Hätte die Welt keine Substanz, so würde, ob ein Satz Sinn hat, davon abhängen, ob ein anderer Satz wahr ist. Es wäre dann unmöglich, ein Bild der Welt (wahr oder falsch) zu entwerfen.“  (Aus: Tractatus logico-philosophicus, 2.0211/2.0212).

Als Paul Watzlawick sein ebenso kluges wie unterhaltsames Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ schrieb, ahnte er nichts von Wirklichkeitskonstruktionen dieser Art. Auf eine physisch nahezu unmerkliche, sehr leise, unsichtbare, aber dennoch ungeheuer wirkungsvolle Weise stellt uns diese neue Revolution vor die Frage, wie gut und wie schnell wir unser Wahrnehmungssystem und unser Bewusstsein schärfen und weiterentwickeln können, um mit den scheinbar unmerklich und zugleich rapide wachsenden Veränderungseinflüssen intelligent und selbstbewusst umgehen zu können. Im großen Verwirrspiel um Wahrheit und Fake entsteht eine bisher nicht gekannte Art von Realitätsverlust. Die Matrix lässt grüßen. Dass wir fortlaufend Informationen und Daten abgeben, lässt sich heute schon gar nicht mehr verhindern. Doch das Wissen und das Bewusstsein von dieser Entwicklung wächst. Und solange Menschen im Spiel sind, entsteht niemals eine Kraft ohne eine Gegenkraft zu erzeugen.

Das neue Zeitalter ist noch jung. Vor uns liegen einige Dekaden, in denen Weichen gestellt werden.

 

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Bild: Gerd Altmann, Public Domain (Creative Commons CC0 1.0 Universell))

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