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SELFIE-MANIE: ICH, WIE ICH DIE RUE DE RIVOLI IN PARIS ENTLANGLAUFE

Als ich kürzlich in Paris die Rue de Rivoli entlanglief, die zum Louvre führt, gingen vor mir drei Menschen – es könnte eine Mutter mit ihren zwei Kindern im Teenage-Alter gewesen sein. Jeder der drei hatte einen Selfie-Stick in der Hand und filmte sich dabei, wie er diese Straße entlang lief. Sowas hatte ich bis dahin noch nie gesehen. In einer Stadt wie Paris kann man die überbordende Selfie-Manie geradezu an jeder Straßenecke erleben. So viel attraktive Kulisse einfach nur zu genießen ohne sich via Selfie permanent selbst in ihr zu verewigen – das machen zur Zeit wohl nur noch Outsider.

Auch die Zahlen zeigen, dass meine Beobachtung in Paris keine Ausnahme mehr ist: In der Juni-Ausgabe von brandeins können Sie nachlesen, dass 40% der britischen Millennials ihren Urlaubsort danach auswählen, wie gut er sich auf Instagram präsentieren lässt – natürlich am besten immer zusammen mit einem Portrait von sich selbst

Die Kamera – Auge oder Spiegel?

Das Phänomen des Sightseeing-Tourismus mit der dazugehörenden Fotografiersucht ist nicht neu. Je weniger Zeit ich habe, um einen Ort wirklich zu erleben und kennenzulernen, desto wichtiger ist es, wenigstens  im Foto festzuhalten, dass ich tatsächlich dort war. Doch die rasant steigende Zahl an Selfies, die in den sozialen Medien veröffentlicht werden, ist für mich Ausdruck einer neuen Qualität des Umgangs mit der Wirklichkeit, dem Leben und sich selbst. 

Sie erinnert mich an die Geschichte von Narziss, dessen Eitelkeit damit bestraft wurde, dass er sein Spiegelbild in einer Wasseroberfläche sieht und sich so sehr in dieses Bild verliebt, dass er gar nicht genug vom Anblick seines Antlitzes bekommen kann –  ohne je zu wissen, dass es sein eigenes Spiegelbild, d.h.er selbst ist, in den er sich verliebt hat. Das ist die Strafe. Wahrscheinlich weiß kaum noch jemand, dass Selbstverliebtheit in der Antike als Strafe galt. Nemesis – oder nach anderen Quellen Artemis – verdammte Narziss zu dieser unstillbaren Liebe zu seinem Spiegelbild.

Die alten Griechen sind uns in manchen ihrer Erkenntnisse bis heute mindestens ebenbürtig. In dieser sind sie uns vielleicht sogar überlegen. Denn auf die Idee, dass Eitelkeit mit Selbstverliebtheit bestraft wird, käme heute wohl niemand mehr. Umso interessanter finde ich diese antike Geschichte, wenn ich über die Selfie-Manie unserer Tage nachdenke.

Im Falle der Selfies benutzen wir die Kamera quasi als Spiegel, in dem wir uns selbst sehen. Dabei sollte sie, wie Wim Wenders es so schön gesagt hat, ein Auge sein, durch das ein Mensch die Welt sieht.

Nicht nur ich, sondern Alle sollen mich sehen

Nur gehen wir noch weiter: Wir wollen uns nicht nur ständig selbst sehen, wir teilen diese Bilder von uns auch pausenlos mit der ganzen Welt. Der Blick auf die Welt rückt dabei in den Hintergrund, denn die Welt bin ich. Und sie ist besonders schön, wenn ich von möglichst vielen anderen gesehen werde, die mir möglichst viele Likes schenken, versteht sich.

Natürlich kann das jeder so machen, wie er möchte. Aber ich frage mich schon, was der Bedeutungsrahmen dieser Selfie-Kultur ist.

Für einen Moment ein Star sein

„In der Zukunft wird jeder einmal für 15 Minuten lang berühmt sein.“, sagte Andy Warhol in den 1960er Jahren voraus. Er hatte damals bereits erkannt, dass wir uns in ein Medienzeitalter hineinbewegen, in dem jeder sich wie ein Star fühlen kann, nur weil er mal kurz im Fernsehen zu sehen ist. Heute spielt das Fernsehen hierbei zwar auch immer noch eine gewisse Rolle. Doch durch das Internet kann heute jeder allen auf der ganzen Welt jederzeit mitteilen: Schaut her, wie toll ich bin und was ich alles Tolles mache.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich finde es großartig, dass heute jeder seine Ideen in Blogs oder Podcasts und Videos auf YouTube oder anderen Plattformen teilen kann. Davon profitieren insbesondere viele junge Menschen, die künstlerisch, technisch oder praktisch etwas drauf haben, was andere begeistert oder ihnen im Alltag konkret weiterhilft. Dieses ganze Wissen und Können blieb früher nur allzu oft im privaten Umfeld stecken, wurde von Verlagen und Agenturen einfach ignoriert und kam deshalb nie ans Licht der Öffentlichkeit. Gut, dass das heute anders ist!

Doch ob ich nun gerade irgendwo auf der Welt einen Latte Macchiato trinke oder Sushi esse – mal ehrlich: wer muss das denn wirklich wissen? Wen interessiert das? Die Nachwelt ganz sicher nicht. Wohl aber die, die genauso unterwegs sind und mit ihrem eigenen nächsten Selfie noch eins draufsetzen? So stellt die Überflussgesellschaft ihren Lebensstil ungebremst und selbstverliebt öffentlich zur Schau. Selbstverliebt ohne zu erkennen, dass sie nur sich selbst liebt. Narziss lässt grüßen.

Digital schlägt analog?

Welche Motivation auch immer dahinter steckt – eines geht in der Selfie-Manie auf jeden Fall verloren: Der Genuss an der Vergänglichkeit des schönen Augenblicks und das Vertrauen darauf, dass das Beste immer nur das ist, was uns im Gedächtnis bleibt. 

Schon immer haben Menschen ihre Erlebnisse, wichtige Ereignisse oder interessante Personen in Bildern festgehalten – angefangen von den großartigen Höhlenmalereien unserer Vorfahren vor mehr als 30.000 Jahren bis hin zu den Gemälden, Portraits und Zeichnungen eines Dürer, da Vinci, Brueghel, Bosch oder Goya. Bis dann vor rund 150 Jahren die Fotografie erstmals ganz neue Möglichkeiten eröffnete, die für uns heute längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden sind.

Doch wenn Menschen heute einen großen Teil ihrer Lebenszeit damit verbringen, sich selbst optimal in Szene zu setzen und das beste Selfie-Motiv zu finden, und wenn ihr Blick sich nur noch selten vom Display ihres Smartphones löst, dann geht ihnen die Freiheit verloren, diesen Moment einfach nur zweckfrei und intensiv zu erleben. Vereinfacht gesagt, schlägt dann das Digitale das Analoge.

Ich finde, dass wir die Möglichkeiten des Internets und der Digitalisierung bewusst und gezielt nutzen sollen. Ich glaube aber auch, dass wir – je mehr wir in die digitalisierte Wirklichkeit hineinwachsen, ein ebenso großes Bedürfnis nach Erlebnissen in der analogen Welt entwickeln. Und ich habe den Eindruck, dass die Lust auf das Original, auf das Authentische grundsätzlich wieder wächst. Das macht mich hoffnungsfroh – auch in Zeiten der Selfie-Manie.

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