Thoughts & Insights

Die Unendlichkeit existiert nur im Augenblick

Es gibt Momente, in denen Zufall und Bestimmung sich für den Bruchteil einer Sekunde berühren. Das sind die Momente, in denen alles entsteht, alles sich verändert, alles vergeht, alles endet. Momente des vollkommenen Einsseins von allem. Momente, in denen Zufall und Bestimmung miteinander eins werden.

Nehmen wir zum Beispiel das Entstehen von Leben: Zufall oder Bestimmung? Welcher Samen welches Ei findet und befruchtet, dürfte angesichts ihrer ungeheuren Zahl von Zufall sein. Doch in der Millisekunde, in der dieser Zufall seine Wirklichkeit findet, verwandelt er sich in Bestimmung. Im Moment der Befruchtung sind Bestimmung und Zufall nichts Getrenntes mehr. Sie sind ein und dasselbe. Jedes Lebewesen ist mit seiner ganzen genetischen Ausstattung, seinem späteren Aussehen, seinem Werden genau in solch einem einzigen winzigen singulären, einzigartigen und irreversiblen Moment entstanden, in dem Bestimmung und Zufall eins miteinander waren. Die Frage woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen, beantwortet sich unter dieser Betrachtung immer wieder neu.

Genauso ist es mit der Liebe, genauso ist es mit dem Tod. Und genauso ist es mit der Kunst.

In der Liebe, im Tod und in der Kunst können wir solch einen Moment der unerklärlichen Berührung zwischen Bestimmung und Zufall erleben. Wenn man Beethovens Mondscheinsonate immer und immer wieder hört, kann man einen leisen Hauch dieser Singularität spüren. In ihrem Klang spiegelt sich ein Hauch von Unendlichkeit.

„Die Unendlichkeit existiert nur im Augenblick“ sagte OUBEY einmal. Bis heute bringt mich diese Aussage von ihm immer wieder ins Denken. Hin und wieder, in manchen Momenten, kann ich die Bedeutung, die in diesen wenigen Worten liegt, erahnen. Dann ist es einfach nur die Faszination dieses Moments, die mich bewegt. Das ist nicht planbar. Es geschieht einfach unerwartet und dass es genau in diesem Moment geschieht, ist vielleicht selbst schon solch ein singuläres Ereignis, in dem sich diverse Energien aus unterschiedlichen Richtungen und in unterschiedlicher Stärke für einen Moment treffen. Solche Momente anzunehmen, auszukosten und zu genießen, ruft in mir ein kurzes, aber lange nachschwingendes, großes Glückserleben hervor.

Irgendwann berühren sich Bestimmung und Zufall vielleicht auch in unserer nächsten Existenzform noch einmal. Vielleicht im Moment des Todes. Das ist eine sehr schöne Vorstellung, die verrückter klingen mag als sie tatsächlich ist.

Wir Menschen trachten danach, für alles, was wir nicht verstehen, ein Wort, eine Erklärung, eine Ordnung zu finden, in der Hoffnung, damit dem Verstehen zumindest einen Schritt näher zu kommen. Das ist einerseits gut so, ist zugleich aber immer auch ein Irrtum. Und es ist ein großes Glück, wenigstens für einige kurze Momente, von diesem Irrtum befreit, den wahren Grund allen Seins, allen Werdens und allen Vergehens zu erahnen. Solch einem glücklichen Moment sind diese Gedanken entsprungen. Sie erheben nicht den Anspruch, gültig zu sein. Doch in einem subjektiven Sinn sind sie wahr.

Und dass ich diese Gedanken an dieser Stelle genau heute, am 2. August 2019, öffentlich teile, hat seinen Grund. Denn heute vor fünfzehn Jahren, am 2. August 2004, verlor OUBEY, von dem der innerste Gedanke dieses Beitrags stammt, durch einen kuriosen Unfall auf unvorhersehbare und tragische Weise im Alter von sechsundvierzig Jahren sein Leben. Bestimmung oder Zufall? Oder beides vereint im Bruchteil einer Sekunde? Ein Augenblick, in dem für ihn die Unendlichkeit begann.

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Das Bild von OUBEY entstand im Stadtpark von Aberdeen während unserer Schottlandreise im August 2002.

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