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Die Magie des Balls

Wenn heute in London zwei große Turniere des Ballsports ihren Höhepunkt erleben, dann verfolgen nicht nur die Menschen in den Stadien, sondern Millionen von Menschen in ganz Europa diese Spiele gespannt und mit großer Leidenschaft live auf den Bildschirmen: am Nachmittag das Finale des Tennisturniers in Wimbledon und am Abend im Wembley Stadion das Finale der Fußballeuropameisterschaft. Woher kommt diese leidenschaftliche Begeisterung?

Meine These: Es liegt am Ball.

Das dritte Element

Egal ob zwei Mannschaften oder zwei Menschen mit dem Ball gegeneinander oder um den Ball miteinander spielen – der Ball ist als drittes Element immer im Spiel. Sobald er die Hand, den Fuß oder den Schläger verlassen hat, bewegt er sich frei im Raum nach den Gesetzen der Physik. Sein Weg oder seine Flugbahn kann dann höchstens noch durch Wind und Wetter beeinflusst werden, nicht aber durch den Eingriff eines Spielers. Ob er an der Netzkante zurück ins eigene Feld oder hinüber ins Feld des Gegners fällt, entscheidet sich in der Sekunde dieser Berührung und kann im Tennis über den Gewinn eines ganzen Matches entscheiden.

Mit dem Wurf von Speer, Diskus oder Hammer in der Leichtathletik verhält es sich flugtechnisch vielleicht ähnlich wie mit dem Ball. Doch da geht es allein um Weite, nicht ums Zusammenspiel zwischen Menschen.

Die Eigendynamik der freien Bewegung eines Körpers im Raum – das ist das Wesensmerkmal des Spiels mit dem Ball und unterscheidet deshalb den Ballsport von allen anderen Sportarten. Der Ball bewegt sich frei und wohin er läuft oder fliegt, hängt vor allem vom Geschick des Spielers in dieser einen einzigen Sekunde der Berührung ab.

Eine runde Sache

„Der Ball ist rund“ – diese scheinbar banale Feststellung von Sepp Herberger, dem ersten Bundestrainer einer deutschen Fußballnationalmannschaft nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, wird noch heute gern zitiert. Im Unterschied zum Rad, einer der bahnbrechenden Erfindungen der frühen Menschheitsgeschichte, ist der Ball aber nicht nur kreisrund. Er ist kugelrund. Genau das macht ihn so besonders.

Und das macht das Zuschauen bei einem Ballspiel genauso interessant wie das aktive Spielen selbst. Man beobachtet nie nur die spielenden Menschen, sondern immer auch den gespielten Ball und ist gespannt, wo er landen wird.

Ob geworfen, geschossen oder gestoßen – ein Ball kann sich jederzeit in alle möglichen Richtungen bewegen. Man kann ihn ins Feld, ins Tor, in den Korb oder ins Loch schießen, je nachdem ob das Spiel mit dem Ball den Regeln von Fuß- oder Handball, Basketball, Volleyball, Eishockey, Rugby, Tischtennis, Golf oder Billiard folgt. Man kann ihn aber auch ins Rough, ins Netz oder weit über das Tor hinaus in den Nachthimmel Italiens schießen, wie Paul Gascoigne seinerzeit im Elfmeterschießen des Halbfinales der Fußballweltmeisterschaft von 1990 zwischen England und Deutschland.

Das Ende ist immer in Sicht

„… und das Spiel hat neunzig Minuten“ lautet die Fortsetzung von Sepp Herbergers bereits zitiertem Satz. Das stimmt für den Fußball, aber keineswegs für andere Ballsportarten. Wenn es eine zeitliche Begrenzung gibt, wie beispielsweise im Fuß-, Hand- und Basketball oder im Eishockey, dann ist genau das ein besonderes Spannungsmoment: Welche Mannschaft schafft es, in der begrenzten Zeit mehr Treffer zu erzielen als die andere?

Im Volleyball, Tennis, Tischtennis oder Golf aber geht es allein um die Punkte – unabhängig von der gespielten Zeit. Ein Tennismatch kann sich erst nach vielen Stunden im fünften Satz zugunsten desjenigen Spielers entscheiden, der die besseren Nerven hat und am Ende den entscheidenden Punkt spielt.

Die Freude am Spiel

In frühen Zeichnungen aus China und Japan sowie in Reliefs aus Ägypten und Mexico sehen wir Menschen, die sich Bälle zuwerfen und sogar bereits Fußball spielen. Das Werfen und Fangen ebenso wie das Schießen und Annehmen eines Balls ist im Grunde genommen ein Akt zwischenmenschlicher Interaktion – ohne Worte. Das muss schon damals von Bedeutung gewesen sein, wenn dem Ballspiel bereits seinerzeit eigene Darstellungen gewidmet wurden.

Diese besondere soziale Qualität des Ballsports hat ihn dann auch, zumindest in Teilen und in Verbindung mit nationalistischen Ambitionen, zu einem der profitabelsten Geschäftsfelder im Leistungssport der letzten fünfzig Jahre werden lassen. Dass sich mit einigen Spielarten des Ballsports so viel Geld verdienen lässt wie in diesen heutigen Zeiten, hat der Spielfreude mancher Akteure glücklicherweise keinen Abbruch getan.

Die italienische  Fußballnationalmannschaft lebte und zeigte das in diesen Wochen auf begeisternde Art und Weise. Sie spielten zwar(meistens) taktisch klug und immer erfolgsorientiert, wirkten dabei aber dennoch als wären sie Jungs auf dem Bolzplatz, freuten sich wie die Kinder, wenn sie ein Tor schießen oder gewinnen.

Emotionen gehören dazu

Ohne Emotion geht gar nichts. Sie ist die Antriebskraft und Sport ist in all seinen Spielarten und Erscheinungsformen immer mit Emotion verbunden. Das fängt beim ganz privaten Sport als Ausgleich zur meist sitzenden Berufstätigkeit vieler Menschen im heutigen Alltagsleben an. Wenn ich mich bewege, komme ich in „Motion“ und damit immer auch in ein Gefühl, das sich vom Gefühl des Sitzens an einem Schreibtisch deutlich unterscheidet. Und es endet bei der Motivation einer Sportlerin, eine bestimmte, für sie subjektiv definierte Höchstleistung zu erreichen.

Etwas anders verhält es sich mit den Emotionen der Zuschauer und Fans, in denen sich alles mögliche miteinander vermischt. Hier spielt kollektive Identität eine wesentliche Rolle – von der Identifikation für den lokalen oder regionalen Verein bis hin zur jeweiligen Nationalmannschaft. Dann steht und fällt auf einmal alles mit dem Sieg oder der Niederlage der „eigenen“ Mannschaft. Wenn es soweit kommt, erreicht das Spiel mit dem Ball wie jeder Sport einen Grenzbereich, in dem es entscheidend darauf ankommt, dass die Sportler selbst, vor allem aber die Fans und Zuschauer, ihre Glücksgefühle nicht in Triumph umschlagen lassen und ihre Enttäuschung nicht in Wut. Das ist eine Frage der Haltung und gerade bei den beliebten Massensportarten des Ballsports zeigt sich immer wieder die Größe, aber leider auch die Niedertracht, die mit solchen Emotionen verbunden ist.

Nation First vs Fairness First

Zur sozialen Qualität des Ballsports gehört die Fairness. Das gilt für individuelle Matches ebenso wie für den Mannschaftssport. Den Engländern sagt man nach, dass sie nicht nur den Fußball erfunden haben, sondern auch das Fairplay. Ersteres stimmt sicher nicht. Beim Fairplay kommen mittlerweile zumindest Zweifel auf, wenn es um das Verhalten der sogenannten Fans geht. Hooligans gibt es überall, doch es ist wohl kein Zufall, dass der Name für diese widerwärtigen Zeitgenossen ebenso wie der fürs Fairplay aus England kommt.

Was den respektvollen Umgang mit dem sportlichen Kontrahenten betrifft, ist selbst den britischen Fans, die nicht zu den Hooligans gehören, diese urenglische Eigenschaft derzeit leider offensichtlich abhanden gekommen, was sehr bedauerlich ist. Sie buhen und pfeifen die Nationalhymnen ihrer Gegner aus, bestrahlen den Torwart der gegnerischen Mannschaft beim Elfmeterschießen mit Laserpointern und eröffnen eine Hetzkampagne gegen farbige Spieler ihrer Nationalmannschaft, von denen sie bis ins Finale hinein begeistert waren – weil sie einen Elfmeter verschossen haben.

Ein jeder ist immer frei, sein Herz auch für eine andere Mannschaft als die der eigenen Nation schlagen zu lassen. In einem internationalen Umfeld, das auf Kooperation und Koexistenz angewiesen ist und sich zugleich in einem politischen Spannungsfeld mit antidemokratischen Systemen befindet, kommt gerade dem Fußball als dem Ballsport, der die Massen weltweit bewegt und begeistert, eine besonders wichtige Aufgabe zu. Das sage ich als Frau, die bereits als junges Mädchen so fußballbegeistert war, dass sie selber spielen wollte und es schaffte, dass die Jungens aus der Nachbarschaft sie mitspielen ließen.

Keep the Ball Rolling

Über das Rad und seine kulturgeschichtliche Bedeutung sind sich die Historiker einig. Doch was ist mit der Weiterentwicklung des Rads, dem Ball? Was wäre unser Leben ohne die rollende Kugel und ohne den Ball? Selbst wirtschaftlich wurde die rollende Kugel im Laufe der Jahrzehnte interessant, man denke nur ans Kugellager oder den Rollkoffer. Dass es auch Kugeln sind, die, aus Kanonen und Gewehren abgeschossen, nicht nur zu Zeiten erklärter Kriege Unheil und Tod über Menschen bringen, gehört zur Wahrheit leider dazu.

Doch vor allem glaube ich, dass der Ball, diese rollende Kugel uns Menschen im Lauf der Geschichte enorm inspiriert und auch sehr gut unterhalten hat. Vom Baby bis zum Greis hat dieses rollende Ding eine magische Anziehungskraft. Und nicht zuletzt hat der rollende Ball auch eine starke symbolische Bedeutung. Den Ball im Spiel zu halten ist nicht nur wichtig im Ballsport, es ist im übertragenen Sinn auch wichtig im Leben überhaupt. Nicht stehen zu bleiben, sondern sich zu bewegen und immer weiter zu gehen – das Leben als rollende Bewegung.

Und das manchmal auch über den Tod hinaus. Dem 1980 durch ein Attentat ums Leben gekommenen John Lennon widmete Bob Dylan Jahre später einen Song mit dem Titel „Roll on John„. Bleib lebendig.

 

 

More Dagmar Woyde-Koehler

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