Thoughts & Insights
Stadt der Zukunft
Mehr als zwei Drittel aller Menschen auf diesem Planeten lebt heute in Städten – Tendenz steigend. Städte, die aus Stein, Beton und Asphalt bestehen. Städte, in denen die Luft schwer zu atmen ist und das Zwitschern eines Vogels untergeht im Lärm des Verkehrs. Städte, in denen Straßen und Parkplätze für Autos ein Vielfaches des Raums einnehmen, der für Parks, Spiel- und Sportplätze zur Verfügung steht. Da stellt sich die Frage, ob so auch die Stadt der Zukunft aussehen wird und soll.
Gleich zu Beginn seines Architekturstudiums an der Universität Karlsruhe machte OUBEY dort Bekanntschaft mit einem Menschen, der ihn tief und mehr als jeder andere in diesem universitären Betrieb beeindruckte – Professor Fritz Haller. „Er ist wie ein Obelisk“, sagte OUBEY über ihn in einem Gespräch 1992 einmal, und fügte hinzu: „Man geht um ihn herum, betrachtet ihn staunend von allen Seiten“. Als gelernter Zimmermann, Autodidakt und Visionär passte Haller so gar nicht ins Kastendenken dieses akademischen Systems. Das allein wäre für OUBEY schon Grund genug gewesen, Fritz Haller interessant zu finden. Doch es waren vor allem zwei futuristischen Projekte, die dieser Professor ins Leben rief und gemeinsam mit seinen Studenten vorantrieb, für die OUBEY sich so sehr begeisterte: Integral Urban war das eine, Prototypische Raumkolonien das andere.
Beide Themen sind heute in einer Weise aktuell wie man es damals zwar bereits vorhersehen konnte, wenn man die Zukunft nicht für eine bloße Fortsetzung des Gegenwärtigen hielt. Doch bis die Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Veränderung ein öffentliches Interesse erreichen, das groß und stark genug ist, um ihnen die Triebkraft zu verleihen, die sie brauchen, um über den Status einer Fiktion oder Utopie hinauszukommen, vergehen Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte.
Hallers Konzept für eine Stadt der Zukunft, 1968 erstmals veröffentlicht, war zu seiner Zeit und ist bis heute revolutionäre und genau aus diesem Grund gleichermaßen faszinierend wie befremdend. Faszinierend, weil der Mensch sich hier in Ballungszentren auf ein hochwertiges Minimum an Platz zurückzieht, in dem ihm sowohl begrenzte individuelle Rückzugsräume als auch eine Vielfalt sozialer, kultureller, sportlicher und medizinischer Funktionsräume zur Verfügung stehen. Dazu ein Mobilitätskonzept, das sich vom Auto als bevorzugtem individuellen Fortbewegungsmittel komplett verabschiedet und stattdessen eine Verkehrsinfrastruktur entwirft, an der ein Elon Musk ganz sicher seine Freude hätte. Und um diese von Menschen besiedelten Ballungszentren herum nichts als Urwald. Vom Menschen befreite Natur, die Natur sein darf.
Soweit das Faszinierende, was mich sofort begeisterte, als OUBEY mir in der ersten gemeinsamen Nacht unseres Lebens bis ins Morgengrauen hinein davon erzählte. Was daran befremdlich ist? Es ist das Kategorische, das sich selbst wiederholende Gleichförmige und Vereinheitlichende dieses ansonsten höchst intelligenten Konzepts. Da ist nur sehr wenig Platz für Individualismus. Alle sind gleich – möglicherweise hat der eine oder andere etwas mehr persönlichen Rückzugsraum in dieser Zukunftsstadt. Doch die Utopie hat etwas Kommunistisches an sich, weshalb sie seinerzeit und bis heute vermutlich auch keinen sonderlich großen Zuspruch erfuhr. Und als solche klammert sie eine zentrale Thematik aus, die sich aus dem Zusammenleben von Menschen in Städten und Gesellschaften inhärent ergibt: die Wirtschaft. Wovon leben die Menschen? Was, wo und wie arbeiten die Menschen in dieser Stadt? Gibt es Produktionsstätten? Wie und wo sind sie in dieses Konzept eingebaut? Gibt es High-Tech-Industrie? Gibt es Landwirtschaft?
Zur Verteidigung könnte man anführen, dass es eben nur ein architektonisches Konzept war und damit begrenzt, ohne Einbeziehung gesamtgesellschaftlicher Fragen. Stimmt. Es war ein Konzept aus dem Elfenbeinturm architektonischen Vordenkens. Als solches ist es aus meiner Sicht aber immer noch inspirierend und wertvoll.
Seit Fritz Hallers „Integral Urban“ veröffentlicht wurde, haben wir viele Jahrzehnte verschenkt, ohne uns mit diesem oder anderen interessanten Zukunftskonzepten fürs Zusammenleben der Menschen im Einklang mit der Natur ebenso kritisch wie ernsthaft zu beschäftigen. Es wurde städtebaulich so wildwüchsig und konzeptlos weiter gemachen wie eh und je, statt in wirklich neue, nachhaltige und naturfreundliche Konzepte zu investieren. Die Natur hätte es uns gedankt. Und das Leben der Menschen in den Ballungsräumen wäre heute substanziell anders und angenehmer als es derzeit ist.
Doch Besserung ist nicht in Sicht. Wir betonieren und zementieren Tag für Tag weiterhin unfassbar große Flächen an Erde auf diesem Planeten zu als wäre Erde etwas, das keine Luft zum Atmen braucht. Und als wären wir nicht abhängig davon, dass die Erde uns das gibt, was wir zum Leben brauchen. Wir haben nicht nur den Respekt vor der Natur verloren, wir haben als Spezies offensichtlich noch immer nicht verstanden, was uns überhaupt hervorgebracht hat und am Leben erhält.
Die Frage nach dem Konzept für eine Stadt der Zukunft ist eine Frage des Überlebens – so oder so.
Nachdem alle sozialen Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts am Versuch ihrer Verwirklichung im 20. Jahrhundert grandios gescheitert sind, kommen nun, auch nicht besser, die sozialen Dystopien in Mode. Sie sind Ausdruck eines Zeitgeists, der den Glauben an die eigene Fähigkeit zur Veränderung verloren zu haben scheint und deshalb den eigenen Untergang beschwört. Warnend, aber nicht wirklich hilfreich. Kann der Mensch wiedergutmachen, und als seine ureigenste Existenzgrundlage wiederherstellen, was er einhundertfünfzig Jahre lang in einem Rausch, gemixt aus technischer Machbarkeit und finanzieller Raffgier, zerstört hat? Auf diese Frage kann es im Jahr 2021 für eine Spezies, die sich selbst als Homo Sapiens bezeichnet, nur eine Antwort geben und die heißt „Ja“. Die Spezies steht auf dem Prüfstand. Sie muss zeigen, ob sie intelligent genug ist, ihr eigenes Überleben zu sichern. Denn dass der Planet uns überleben wird, steht außer Frage. Wir sind nicht die Herrscher, sondern Teil dieses wunderbaren Kosmos, in dem wir leben. Das Gegenmittel gegen Dystopische Verhältnisse sind nicht irgendwelche neuen Utopien. Was fehlt, ist das Denken in Zusammenhängen, das interdisziplinäre Denken und Zusammenarbeiten all derer, die sich dadurch den Namen einer Elite, den sie sich heute gerne selbst zuschreiben, tatsächlich erst verdienen würden.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Wenn Science Fiction Dystopien entwirft, ist das etwas anderes. Blade Runner von Ridley Scott aus dem Jahr 1982, basierend auf dem Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep“? von Philip K. Dick aus dem Jahr 1968, zeigt die Dystopie der Stadt Los Angeles im Jahr 2019. Auch wenn es in Los Angeles heute nicht immer dunkel ist und regnet wie im Film „Blade Runner“, trifft die Beschreibung dessen, was sich dort heute im Alltagsleben einer wachsenden Zahl von Menschen als „dunkle Realität“ darbietet durchaus den Kern dessen, was „Blade Runner“ seinerzeit filmisch in Szene gesetzt hat. Menschen, die sich ihre Existenz nur mit Mühe nur durch mehrere Jobs sichern und sich dennoch keine Wohnung leisten können. Sie leben in Zelten auf den Bürgersteigen verkehrsreicher Straßen. Sie sind keine Outlaws, sondern Menschen, die täglicher Arbeit nachgehen. Ein großartiger, unbedingt sehenswerter Dokumentarfilm über Ridley Scott´s „Blade Runner“, der vor einigen Monaten auf Arte TV ausgestrahlt wurde, hat gezeigt, dass diese Fiktion einer Stadt der Zukunft am Beispiel des Lebens in einem Los Angeles 2019 inzwischen längst von der Gegenwart eingeholt wurde. Ob sich das mit der Dystopie des ebenso großartigen „Blade Runner 2049“ von Denis Villeneuve aus dem Jahr 2017 wiederholen wird, werde ich wohl nicht mehr erleben.
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