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Vertrauen oder Kontrolle?

„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Diesen Ausspruch kennen Sie sicherlich auch und viele folgen diesem Ratschlag vertrauensvoll – sei es im unternehmerischen Kontext, in der persönlichen Beziehung oder in der Erziehung der Kinder. Doch kaum einer weiß, wes Geistes Kind dieser Ratschlag eigentlich ist.

Er ist ungefähr einhundert Jahre alt und wird Vladimir Iljitsch Lenin zugeschrieben, der als Revolutionär in Russland einst den Boden bereitete für das ihm folgende totalitäre Kontrollsystem des Stalinismus, das auf paranoide Weise allen und jedem misstraute und unzählig vielen Menschen das Leben kostete.

Jedes Kontrollsystem basiert auf Misstrauen. Jede gute menschliche Gemeinschaft basiert auf Vertrauen. Manchmal ist Misstrauen angebracht und notwendig, manchmal ist es völlig fehl am Platz – wo verläuft die Grenze?

Die Sicherheit im Ungewissen

Dies in einer konkreten Situation herauszufinden, ist nicht immer einfach. Aber es ist wichtig, sich dieser Frage zu stellen und nicht im ersten Fall einer Unsicherheit sofort in den Kontrollmodus zu verfallen – sei es zwischenmenschlich oder gesellschaftlich. Ich kann nachvollziehen, dass viele Menschen sich heutzutage nach Sicherheit und einer damit verbundenen Kontrolle sehnen. Doch die entscheidende Frage in diesem Kontext ist, wann Kontrolle für unser Zusammenleben wirklich notwendig und angebracht ist und wann sie schadet.

Selbstkontrolle und Selbstvertrauen

Ich glaube, dass es für das ganze Leben beides braucht: Kontrolle UND Vertrauen. Das schließt für mich auch Selbstkontrolle und Selbstvertrauen ein. Wer sich selbst nicht vertraut, kann auch anderen nicht vertrauen. Wer sich selbst nicht kontrollieren kann, kann auch andere nicht sinnvoll kontrollieren.

Jahrelang war ich selbst Führungskraft im Top Management. Meine MitarbeiterInnen zu kontrollieren, hat für mich schon damals keinen Sinn gemacht. Ich wusste, dass sie ihr Bestes geben wollen und dass sie das nur können, wenn sie das entsprechende Vertrauen und einen eigenverantwortlichen Handlungsspielraum bekommen. Es ging nicht um Verhaltenskontrolle, sondern darum, dass am Ende das Ergebnis stimmt. So waren wir über viele Jahre hinweg gemeinsam sehr erfolgreich.

Menschen brauchen Vertrauen, um ihre Fähigkeiten entfalten und  eigenverantwortlich handeln zu können. Das sollten auch Eltern in der Erziehung ihrer Kinder nie vergessen. Die Führung durch entmündigende Kontrollsysteme in Unternehmen und Organisationen treiben dieses Vertrauen leider allzu oft aus. Hier herrscht oft noch das Gedankengut des frühen 20. Jahrhunderts.

Kontrolle gezielt einsetzen

Die Notwendigkeit von Kontrolle hängt zusammen mit der Frage von Sicherheit und Risiko. Möchte ich Qualitätssicherung in meinen Lebensmitteln? Natürlich. Möchte ich, dass der Straßen- und Flugverkehr zur Sicherheit des Allgemeinwohls kontrolliert wird? Auf jeden Fall. Möchte ich, dass Tiere gut leben und Müll korrekt entsorgt wird? Unbedingt. Möchte ich, dass die Klimaschutzziele eingehalten werden? Ja! 

Kontrolle ist also per se nichts Schlechtes. Doch nur durch das richtige Maß an den richtigen Stellen wird Kontrolle sinnvoll und nützlich. Hier gibt es für jeden einzelnen von uns, für die Zivilgesellschaft und auch für die Politik und Wirtschaft noch einiges zu korrigieren.

In diesen Tagen tauchen gerade sehr viele Wünsche nach Kontrollen und Verboten auf. Hier sollten wir alle gemeinsam sehr genau hinschauen und nicht auf Anhieb der nächsten Kontroll- oder Verbotsidee folgen. Manchmal muss es sein. Manchmal geht es aber auch viel besser auf dem Weg des Vertrauens. 

Mit offenen Augen durch die Welt 

Ich bin alles andere als ein Kontrollfreak. Aber ich bin auch kein Mensch, der blind vertraut. Ich schaue genau hin, sammle meine eigenen Eindrücke, hinterfrage und überprüfe meine Wahrnehmung und dann ziehe dann meine eigenen Schlussfolgerungen. Ich bin aufmerksam in allen Lebenslagen und lebe nicht nach dem Motto „Einmal vertraut ist immer vertraut“. Ich versuche für mich das richtige Maß zu finden.

Und mal ehrlich: Würde ich den ganzen Tag alles nur anzweifeln, kontrollieren und selbst machen wollen, wäre da gar kein Platz mehr für all die guten Ideen und Vorschläge anderer, die mich inspirieren und voranbringen und mit denen ich so gerne und gut vertrauensvoll zusammenarbeite. Das würde mir wirklich fehlen.

More Dagmar Woyde-Koehler

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