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Kann man ein Gebäude lieben?

Seit unsere Spezies sesshaft wurde, gehört das Konstruieren und Erschaffen von Monumenten und Zweckbauten aus Stein zu einer jeden Kultur. Viele Zeugnisse menschlicher Baukunst aus der Vorzeit haben bis heute überlebt und erinnern uns an die beeindruckenden Leistungen unserer Vorfahren auf der ganzen Welt: Die Pyramiden der Ägypter ebenso wie die Tempel der Babylonier, Griechen und Römer, die gigantischen Statuen auf den Osterinseln ebenso wie der Steinkreis von Stonehenge.

In Zentraleuropa begann zunächst mit der Besiedlung durch die Römer auch hier der Aufstieg der Baukunst, die sich im Mittelalter mit der Entstehung von Städten weiter ausbreitete. Die romanischen Dombauten entlang des Rheins und die Vielzahl gotischer Kathedralen, die in den Zentren der aufblühenden Städte errichtet wurden, sind bis heute Monumente menschlicher Gestaltungs- und Schaffenskraft.

 

Was in der damaligen Zeit meist mehr als 200 Jahre brauchte, um erbaut zu werden, kann seither jederzeit durch ein Feuer binnen Stunden in Schutt und Asche zerfallen. In Zeiten des Krieges haben Menschen über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg derartige  Zerstörungen immer und immer wieder erlebt und müssen sie in manchen Regionen dieser Welt noch heute erleben. Der Kaiserdom von Speyer wurde im Laufe der Geschichte mehrmals niedergebrannt, doch immer wieder aufgebaut und steht in seiner schlichten Schönheit noch heute. Nun aber traf ein solches Schicksal vor zwei Wochen die große Kathedrale von Notre Dame auf der Île de la Cité in Paris, mitten im Frieden und aus heiterstem Himmel.

 

Notre Dame in Flammen. Menschen auf der ganzen Welt konnten live dabei zusehen, wie sich die Flammen im Dachstuhl ausbreiteten und sich mit rasanter Geschwindigkeit vorwärts in Richtung der Haupttürme bewegten wie eine Sturmwelle im Ozean.  „Ein schwieriger Brand, schwer zu löschen“, sagt die Feuerwehr, die mit bewundernswertem und höchst professionellem Einsatz das Feuer nach fünf Stunden unter Kontrolle bringt und damit das Allerschlimmste verhindert. Sie leistet in diesen Stunden Schwerstarbeit – so wie einst die vielen Menschen, die diese Kathedrale über 200 Jahre hinweg mühselig und beharrlich erbaut haben. Allein diesen Generationen von Menschen ist es zu verdanken, dass dieses Gebäude überhaupt jemals existierte. Und allein der Leistung dieser vierhundert Feuerwehrleute ist es  nun heute zu verdanken, dass die Leistung der Erbauer nicht in Schutt und Asche versinkt. Dass die Struktur des Gebäudes überlebt und für den Wiederaufbau erhalten bleibt: das Hauptschiff steht, die beiden vorderen Türme stehen. Das ist schon viel angesichts der totalen Zerstörung, mit der ich rechnete, als ich die ersten Bilder des lichterloh brennenden Gebäudes sah.

 

Fünf Stunden später gibt es erste Bilder vom Innenraum. Oben im Gewölbe  brennt es noch, eher Glut als Flammen. Unten steht das Kreuz und strahlt. Die Fenster sind zerborsten, aber die Mauern stehen. Das sind tröstliche Bilder für mich.

 

Dieses wunderbare Gebäude wurde schwer getroffen und verletzt. Aber es steht noch. Es ist nicht kollabiert, liegt nicht in Schutt und Asche. Es hat dank Menschenhand, die es einst erschaffen hat, diese schwerste Prüfung aller Zeiten überlebt und wird durch Menschenhand irgendwann in neuem Glanz  wiederauferstehen. Ob ich das erleben werde, weiß ich nicht, aber dennoch freue ich mich darauf. Denn solch ein Gebäude ist  – wie alle Bauwerke, die unsere Vorfahren errichtet haben – mehr als Stein, Mörtel und Baukunst.

 

Notre Dame ist  – wie alle Kulturdenkmäler auf der ganzen Welt – ein Symbol für die Anstrengungen unserer Spezies, etwas zu schaffen, was über sie hinausweist. Somit ist sie ein Ausdruck von Selbstbewusstsein ebenso wie von Demut. Und sie ist einfach wunderschön. Perfekt in den Proportionen, hoch und hell im Innern, eine der großartigsten Orgeln der Welt beherbergend. Ihre Schönheit von außen ist umwerfend, weil ihre Türme nicht typisch gotisch-spitz in den Himmel ragen, sondern von schlichter Geradlinigkeit sind – flach. Deshalb liebe ich Notre Dame und alle Gebäude, die eine derartige Qualität haben, wo auch immer auf der Welt sie stehen mögen und aus welcher Kultur heraus sie auch immer entstanden sein mögen. Deshalb liebte auch OUBEY diese Gebäude. Und deshalb trifft mich die absichtliche Zerstörung solcher Gebäude und Kulturstätten durch fanatisierte Bilderstürmer unserer Zeit ebenso wie ein fahrlässig entstandener Brand oder deren schleichender Zerfall durch mangelnde Fürsorge.

 

Es ist der Respekt für die kulturelle Leistung unsere Vorfahren, der uns in den westlichen Kulturen zunehmend abhanden zu kommen scheint. Damit einher geht der Verlust des Respekts vor Kulturen anderer Völker, die uns nicht ebenbürtig zu sein schienen und die wir deshalb versklavten, unterdrückten oder zumindest verachteten. Wir erliegen allmählich  einer immer maßloser werdenden Selbstüberschätzung. Wir halten uns für die Besten, die es je gab in der Evolutionsgeschichte. Wir erobern, beherrschen und bereisen die Welt und degradieren dabei die Monumente der beeindruckenden Schaffenskraft unserer Vorfahren zu touristischen Attraktionen. Verwenden sie als neue Art der Trophäe, Hintergrund für Selfies, die man im Social Web teilt, um ein paar Likes zu bekommen. Damit stellen wir die kulturelle Leistung unserer Vorfahren in eine Reihe mit Disneyland, In-Restaurants und sonstigen angesagten Spots. Wir konsumieren unser Erbe als wäre es selbstverständlich.

 

Ich würde mir wünschen, dass der Brand der Notre Dame ein wenig dazu beitragen wird, den Respekt vor der Leistung von Menschen wiederzubeleben, die lange vor unserer Zeit lebten und weder reich noch berühmt wurden oder je werden durch das was sie getan und geschaffen haben. Sie sind namenlos verschwunden im großen Schlund der Geschichte, in dem auch jeder von uns eines Tages verschwinden wird. Mit dem was sie getan und  geschaffen haben, gaben sie anderen Menschen weit über ihre eigene Zeit hinaus etwas Großartiges, woran sie sich erfreuen und woraus sie geistige und seelische Kraft und Stärke beziehen können.

 

Ohne Liebe und Respekt für das, was unsere Vorfahren vor hunderten und tausenden von Jahren mit vergleichsweise primitiven Mitteln geschaffen haben, werden wir an den Herausforderungen und  Entwicklungen der Zukunft zerschellen wie ein Boot, das im Sturm der Ozeanwellen auf einen Fels aufläuft. Deshalb und nicht zuletzt auch mit Blick auf die rasante Entwicklung Künstlicher Intelligenz brauchen wir einen gesellschaftlichen Diskurs über die historischen und ethischen Grundlagen sowie den globalen und kosmischen Zusammenhang unseres Denkens und Handelns.

 

 

Bildnachweis:

Taxiarchos228 [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)] – via Wikimedia Commons

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