Thoughts & Insights

Die Welt im Kopf

Spätestens seit Platon stellt sich uns die Frage was wir eigentlich sehen, wenn wir etwas sehen von dieser Welt. Was von dem, was unser Bild von der Welt ausmacht, existiert unabhängig von dem, was wir aktiv wahrnehmen, d.h. wenn wir wach sind? Und was passiert, wenn wir schlafen?

Unser Verständnis von der Welt bildet sich im Laufe unseres Lebens heraus. Es beginnt nicht mit visuellen, sondern mit akustischen Eindrücken von dieser Welt als Außenwelt. Denn das erste was wir von ihr wahrnehmen sind die Geräusche, Klänge und Stimmen unserer Umgebung, die wir – noch nicht einmal geboren – ab einem bestimmten Entwicklungsstand unseres Gehörs im Mutterleib realisieren und an unser Gehirn weiterleiten.

Diese Außenwelt erweitert sich zusehends mit jedem Tag, jedem Monat und jedem Jahr unseres Lebens. Doch sie bleibt immer eine Außenwelt. Mit ihr befinden wir uns im permanenten Austausch solange wir leben. So wie wir uns selbst entwickeln, entwickelt sich auch unser Bild von der Welt. Es verändert und erweitert sich – je nachdem was wir tun, erleben und womit wir uns beschäftigen. Die Lebenszeit, in der sich das Ganze abspielt, ist die Zeit, die wir im Wachzustand verbringen. So jedenfalls meinen wir. Und das, was wir im Wachzustand wahrnehmen und erleben, halten wir für die Welt. Wir unterstellen eine Kongruenz zwischen dem, wie wir die Welt sehen (wollen) und der Welt an sich. Basierend auf unserer sinnlichen Wahrnehmung während wir wach sind.

Doch in dieser Zeit des Wachseins entsteht ja nur ein Teil unseres Bilds von der Welt. Der Teil, dessen wir uns  – mehr oder weniger – bewusst sind. Es gibt aber auch ein unbewusstes Bild von der Welt, von uns selbst und von dem, was wir Leben nennen. Es entsteht sowohl in der Lebenszeit, in der wir wach sind als auch in der Lebenszeit, die wir schlafend verbringen. Das sind im Durchschnitt 6-8 Stunden pro Tag. Rund ein Drittel unseres Lebens verbringen wir also im Schlaf. Ein Mensch, der 60 Jahre alt ist, hat demnach 20 Jahre seines Lebens „verschlafen“. Hat er in diesen 20 Jahren etwa nicht gelebt? „Sleep is like a temporary death“ singt Bob Dylan.

Der Schlaf ist ein Zustand der Ohnmacht. Er kommt über uns. Wir können unseren Körper zwar eine Zeit lang wachhalten, auch wenn wir müde sind. Doch irgendwann übermannt uns der Schlaf dann doch und versetzt uns in diesen Zustand der Ohnmacht – ob wir es wollen oder nicht. Dabei leben wir natürlich nach wie vor, denn unser Gehirn bleibt wach. Es hält nicht nur alle Körperfunktionen aufrecht, es organisiert sogar deren Regeneration. Und es erschafft neue Welten.

Es bereitet das auf, was wir jemals gesehen, erlebt, gefühlt oder gedacht haben als wir wach waren. Und keineswegs nur das. Assoziationen, die wir bereits im Wachzustand immer wieder mal spontan als erstaunliche Verknüpfung unabhängig voneinander entstandener Gedanken oder Erlebnisse kennen, kann unser Gehirn während wir schlafen in wildeste Verknüpfungen hineintreiben; unkontrollierbare Fantasien, die ebenso beglückend wie bedrückend auf unseren nächsten Wachzustand zurückwirken können, unabhängig davon ob wir uns nach dem Aufwachen an das im Schlaf Erlebte erinnern können oder nicht. „Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo“ singt Andre Heller. Das klingt als wäre unsere Innenwelt die eigentliche, wirkliche, wahre Welt, der die Außenwelt lediglich als inspirierende Folie dient.

Im Schlaf erleben wir die Welt noch einmal auf ganz neue Weise. In dieser Innenwelt sind die Grenzen von Raum und Zeit aufgehoben. Wild und frei werden da ganze Zeitalter übersprungen, surreale Bilder und Ereignisse mit realen Personen oder Ereignissen verknüpft. Wenn wir aufwachen, können wir uns – wenn überhaupt – meist nur an Fragmente erinnern. Traumfetzen, die uns aber ahnen lassen, wie wach und aktiv unser Gehirn war, während wir schliefen.

Auch das, woran wir uns nicht bewusst erinnern können, wirkt mit an der Entwicklung unseres Bildes von der Welt und ist damit zugleich Teil der Welt, in der wir leben. Nichts wird je wirklich vergessen. Dass wir uns nicht erinnern können, heißt nicht, dass etwas vergessen ist. Nie werde ich den Kommentar eines zehnjährigen Mädchens vergessen, das beim Anblick eines von OUBEY s Bildern spontan ausrief, dieses Bild „erinnere sie an nie Gesehenes“. Vielleicht hatte sie Ähnliches doch schon einmal gesehen – im Schlaf?

Das Drittel unseres Lebens, das wir im Schlaf verbringen, ist jedenfalls ebenso Teil unseres Lebens wie die zwei Drittel, die wir wach erleben. Dass uns das zumeist nicht bewusst ist, ändert nichts daran, dass es so ist. Und ich möchte hier die These wagen, dass Menschen, die fähig sind, das zu schaffen, was Kunst genannt wird, eine besonders intensive und enge Verbindung nicht nur zu der Außenwelt entwickeln, die sie bewusst erleben. Sondern auch zu dem, was sie unbewusst erleben – wenn sie wach sind und ebenso wenn sie schlafen und träumen, schreckliche Albträume ebenso inbegriffen wie frei fliegende Tagträume.

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