Blog

Mensch ärgere dich nicht

Wohl ein jeder kennt dieses Spiel, in dem der eine den anderen ärgert, wenn er ihn kurz vorm nächsten Etappenziel oder gar kurz vorm Gewinnen des ganzen Spiels einfach mal so rauswirft. So ähnlich funktionieren sehr viele Spiele, doch nur dieses trägt den Namen „Mensch ärgere dich nicht“. Da hatte jemand entweder Sinn für Humor oder eine pädagogische Absicht, könnte man meinen. Oder beides?

Kleinkinder lernen spielend. Dabei geht es mehr um Spaß und originäre Glücksgefühle als ums Gewinnen, wenngleich diese Glücksgefühle nicht selten durch kleine oder größere Erfolgserlebnisse ausgelöst werden. In der Schule trennt sich das Lernen meist sehr bald von der spielerischen Lust.

Die Lust am Spiel

Umso größer die Lust am expliziten Spiel. Neben den altbekannten und scheinbar zeitlosen Brett-, Würfel- und Kartenspielen erscheinen Jahr für Jahr neue Gesellschaftsspiele, von denen die besten sogar mit Preisen ausgezeichnet werden. Dabei geht es oft um kreative Wortschöpfungen, Wissens- und Quizfragen oder um gemeinsam zu findende Lösungen für ein kniffliges Problem oder eine ganz große Herausforderung. Nahezu immer geht es am Ende aber ums Gewinnen, was bedeutet, dass es andererseits immer auch ums Verlieren geht.

Spaß oder Ernst

Deshalb lernt man beim Spielen Charakterzüge von Menschen kennen, die sonst oft nicht so klar hervortreten. Dabei geht es den meisten beim Spielen vor allem um eins: den Spaß. Spielen ist für sie ein schöner gemeinschaftlicher Zeitvertreib. Sie freuen sich, wenn sie gewinnen, können aber auch verlieren ohne die Laune zu verlieren. Das Leben ist schließlich ernst genug. Bei anderen hört der Spaß am Spiel auf, sobald ein anderer gewinnt oder auch nur besser abschneidet als sie selbst. Da wird das Spiel zum Ernst. Dieser „Mensch ärgert sich“ doch.

Das Ego spielt mit

Ob jemand verlieren kann oder nicht, ist nicht Teil einer genetischen Veranlagung, sondern eine Frage der Haltung. Die Vorstellung, dass ein Gewinner dem Verlierer generell überlegen ist, wird zur Haltung, wenn es einem Menschen an Erfahrungen mangelt, die das Gegenteil beweisen. Mit der Konsequenz, dass das Ego nicht verlieren kann, weil es sich selbst dann unterlegen fühlt und deshalb  gekränkt ist. Gewinnt ein solches Ego gegen ein Ego, das ihm ähnlich ist, ist die Freude über den Sieg meist besonders groß. Beide spielen dasselbe Spiel mit demselben Ernst.

Akzeptieren zu können, dass der andere einfach besser war oder mehr Glück hatte als man selbst, setzt Selbstbewusstsein voraus. Es ist die Voraussetzung dafür, dass überhaupt gespielt werden kann. Denn schon im nächsten Spiel kann es genau umgekehrt laufen.

Wettbewerb als Fest

Insofern ist das Spielen eine gute Schule fürs Leben, von dem manche sagen, es sei selbst ein großes Spiel. Nicht jeder kann oder will das so sehen. Und doch gibt es Parallelen. Zum Beispiel dann, wenn das Spielen seine Fortsetzung im sportlichen Wettbewerb findet. Von „Olympischen Spielen“ heißt es für viele Athleten trotz Kommerzialisierung bis heute noch immer „Dabeisein ist Alles“. Jeder von ihnen hat in nationalen Meisterschaften seine Qualifikation zur Teilnahme durch eine herausragende Leistung erworben. Und zugleich weiß jeder, dass am Ende in jeder Disziplin immer nur drei eine Medaille mit nach Hause nehmen werden. Nur wenige werden gewinnen, ganz viele werden nicht gewinnen. Sind sie alle Verlierer? Für mich zumindest sind sie es nicht. Denn nur weil alle mitmachen, wird das Ganze zu einem großen Fest.

Auch Verlierer können Gewinner sein

Das ist die Idee, die bis heute viele Menschen auf der ganzen Welt begeistert. Sportler genauso wie Zuschauer. Auch der allerletzte Marathonläufer, der das Stadion erreicht, wird gefeiert. Und er belohnt sich mit dieser Leistung und diesem einzigartigen Erlebnis, es geschafft zu haben, selbst. Er weiß, dass er niemals hätte gewinnen können. Aber er weiß auch, dass er stolz auf sich selbst sein kann. Denn das ist genauso viel wert wie ein Sieg. Es ist eine Frage der realistischen Sicht auf die Dinge, ob man mit einer Niederlage konstruktiv umgehen kann. Enttäuschung inbegriffen.

Kein Spiel ohne Regeln

Jedes Spiel folgt eigenen Regeln. Sie muss man kennen und einhalten, wenn man mitspielen will. Wer sich nicht an die Regeln hält, spielt falsch. Was im Gesellschaftsspiel eventuell noch als Mogeln durchgehen kann, ist im gesellschaftlichen wie im sportlichen Wettbewerb nichts anderes als Betrug. Im beruflichen und politischen Wettbewerb sind es Intrigen, im Leistungssport ist es vor allem das Doping, durch das sich Einzelne betrügerisch Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten verschaffen. Im Fußball wurden auch schon ganze Spiele, ja sogar Schiedsrichter gekauft. Wer mit fairen Mitteln nicht gewinnen kann, verdient nicht den Sieg.

Doch selbst wenn ein Schiedsrichter unabhängig und so objektiv wie möglich urteilt, kann er eine Fehlentscheidung treffen. Wenn das passiert, ist die Niederlage nicht nur hart, sondern ungerecht und bitter.

 Messbarkeit hilft

Im Hochsprung ist die Latte der objektive und unbestechliche Schiedsrichter. Sie wird entweder gerissen oder sie bleibt liegen und dann misst sie unzweifelhaft die Höhe des Sprungs. Beim Dartspiel trifft der Pfeil ins richtige Feld, beim Billardspiel trifft die Kugel ins Loch. Im Laufwettbewerb wurde die Ungenauigkeit des menschlichen Sehvermögens bereits vor langer Zeit durch Zielfotos aus mehreren Perspektiven ersetzt, im Fußball gibt es mittlerweile im Zweifelsfall den Videobeweis und im Tennis das Hawk Eye. Korrekte Messungen schaffen Klarheit. Das macht das Verlieren nicht unbedingt leichter. Aber es hilft dem Verlierer zumindest, das Ergebnis zu akzeptieren. Denn meist geht es ja nur um ein paar hundertstel Sekunden oder um einen Zentimeter. Oft aber geht es auch um viel Geld.

Vertrauen entscheidet

Auch in demokratischen Gesellschaften spielt das Vertrauen in die Messung, d.h. in die korrekte Auszählung der Stimmen eine wichtige Rolle. Die Akzeptanz der Wahlergebnisse ist Voraussetzung dafür, dass friedliche Machtwechsel stattfinden können. Die Frage der politischen Herrschaft wird nicht über Erbfolge oder Usurpation geregelt, sondern über das Votum der emanzipierten Staatsbürger. Eine wertvolle Errungenschaft unserer jüngeren Geschichte. Sie beruht auf der Stimmabgabe der Wahlberechtigten einerseits und ihrem Vertrauen in die Korrektheit der Auszählung aller Wählerstimmen andererseits. Zu diesem Konzept des friedlichen Machtwechsels gehört, dass es Gewinner und Verlierer gibt – auf Zeit.

Gewinner auf Zeit

In einer demokratischen Wahl zu verlieren, tut besonders weh. Denn hier geht es um die freie Entscheidung von Menschen für den einen oder anderen Kandidaten – sei es die der Menschen innerhalb einer Partei oder die der Wähler im ganzen Land. Verschiedene Personen und Parteien stehen im Vergleich miteinander zur Wahl. Manchmal gewinnt eine Partei oder Person die absolute Mehrheit. Wenn nicht, dann müssen Koalitionen gebildet und Kompromisse geschlossen werden. Das ist anstrengend, aber gut so. Denn der Gewinner dieses „Spiels“ ist am Ende die Demokratie. Sie ist, wie Sir Winston Churchill zitiert wird, die „schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

More Dagmar Woyde-Koehler

Newsletter