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Kunst in freier Wildbahn
Stellen Sie sich einen Löwen in freier Wildbahn vor. Wenn Sie sich ihm nähern wollten, würden Sie sich vermutlich in einer Art von Käfig schützen, damit er sie nicht verletzen oder töten kann. Stellen Sie sich einen Löwen im Zoo vor und Sie wissen, dass Sie ihm furchtlos sehr nahe kommen können, weil er sich in einem Käfig befindet. Den Preis für so eine furchtlose Begegnung mit dem Löwen zahlt der Löwe. Er zahlt das Vergnügen der Zoobesucher mit einer lebenslangen Gefangenschaft.
Für Tiere, die in erster Generation aus der freien Wildbahn in einen Zoo dieser Welt gebracht wurden, war dieser Verlust der Freiheit sicher schwer zu ertragen. Doch auch in denen, die der zweiten oder dritten Generation angehören und in einem Zoo geboren wurden, lebt noch immer das Gen der freien Wildbahn.
Das Gen der freien Wildbahn haben nicht nur die wilden Tiere. Auch OUBEYs Kunst trägt es in gewisser Weise in sich.
Kein Zirkus
OUBEYs Bilder entstammen seinem unbeugsamen Freigeist. Unbeeindruckt von den Regeln des Kunstbetriebs tat er nur das, was ihm wichtig und richtig erschien. Im übertragenen Sinn kann man deshalb sagen, dass seine Bilder freiheitsliebend sind. Als ich mich fragte, wie ich OUBEYs Bilder nach seinem frühem Tod adäquat in die Öffentlichkeit bringen sollte, war für mich sehr bald klar: Sie gehören nicht in den Zirkus des Kunstbetriebs. Sie gehören viel eher in eine Art von „Freier Wildbahn“, in der sie sich, so frei wie sie entstanden sind, nun auch frei von allen üblichen Wahrnehmungsgewohnheiten in der Öffentlichkeit behaupten können. So brachte ich die Bilder an Orte, an denen üblicherweise keine Kunst zu finden ist, z.B. in den Kontext einer internationalen Managementkonferenz.
Museum vs. Garderobe
Bei den jährlichen Konferenzen der „Peter Drucker Society“ in Wien geht es um Fragen des Managements in Wirtschaft und Gesellschaft. Kunst steht dort normalerweise nicht im Fokus. Als jedoch der Präsident der Gesellschaft von meiner ENCOUNTER- Tour erfuhr, schlug er vor, OUBEYS Kunst im Rahmen der nächsten Konferenz zum Thema „Managing Complexity“ auszustellen – ohne musealen Kontext, frei von Erklärungen, ja sogar ohne jeglichen ausdrücklichen Hinweis auf die Bilder. Sie waren sozusagen in freier Wildbahn zu erkunden. Das Thema passte sehr gut, da die Thematik der „Komplexität“ in OUBEYs Kunst von zentraler Bedeutung ist. Also nahm ich das Angebot an. Und so hingen zwei seiner Bilder im November 2013 frei schwebend zwischen zwei riesigen klassizistischen Säulen und vier andere Bilder hatten in einem schmalen Flur ihren Platz an den Alutüren der Garderobenschränke gefunden. Was denken Sie, was passierte?
Manager und Kunst = Starke Anziehungskraft
Zunächst waren alle Teilnehmer sehr auf den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit und den gegenseitigen Austausch fokussiert. Doch die Konferenz dauerte zweieinhalb Tage und im Laufe der Zeit kamen immer mehr Konferenzteilnehmer von sich aus in den Flur mit den Bildern, betrachteten sie, griffen zu den Kopfhörern und schauten sich die Encounter Videos an. Obwohl die Aufmerksamkeit nicht aktiv gelenkt wurde, wuchs das Interesse stetig – ebenso wie die Bereitschaft, selbst einem unbekannten Bild vor laufender Kamera zu begegnen. Solche „Open Encounters“ gehören zu jeder Station der Global Encounter Tour und sind besonders spannend. Am Ende gab es in Wien sogar eine Warteschlange für die Open Encounters, so dass wir noch eine „Sonderschicht“ einlegten. Wer weiß was an einem dritten Tag passiert wäre …
Frei und unvoreingenommen
Durch die außergewöhnliche Möglichkeit konnte ich miterleben, welch starke Wirkung OUBEYs Kunst von sich aus auf diese Menschen hatte. Das beeindruckte mich sehr und es zeigte mir zugleich, dass meine Entscheidung für die „freie Wildbahn“ gut und richtig gewesen war.
Denn auch wenn Museen einen großen Beitrag zur Erhaltung und Zugänglichkeit von Kunst leisten, und Kunst in einem optimal inszenierten Rahmen präsentieren, ist es doch eine großartige Chance, Kunst auch einmal frei von diesem Kontext aus nächster Nähe in einem Garderobenflur zu erleben und sich so eine ganz eigene Meinung zu bilden.
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