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Was ist normal in dieser Welt?

Selten war so oft von Normalität die Rede wie in den letzten Wochen und Monaten, in denen sich das Alltagsleben durch die Ausbreitung eines bislang unbekannten Virus namens COVID 19 nahezu von einem Tag auf den anderen komplett veränderte. Was bis vor kurzem geradezu unvorstellbar zu sein schien, wurde Realität. Eine neue Normalität?

Was ist Normalität überhaupt und wer bestimmt, was normal ist? Eine Frage, die Sie sich vielleicht auch schon einmal gestellt haben. Während in Deutschland Menschen laut nach einer Rückkehr zur Normalität rufen wie es sie bis zum Ausbruch der Coronakrise gab, hoffen und demonstrieren in den Vereinigten Staaten von Amerika täglich mehr Menschen dafür, dass die bisherige Normalität des institutionalisierten Rassismus endlich ein Ende hat.

Was als normal gilt, unterliegt einem ständigen Wandel

Wissenschaft und Technik arbeiten mit konstanten Normen. Ein Längenmeter ist ebenso wenig diskutabel wie die Maße für Gewichte oder die Berechnung von Geschwindigkeiten. Die Deutsche Industrienorm, kurz DIN, gewährleistet einheitliche Maße für Sachgegenstände unterschiedlicher Art. Das erleichtert den Alltag und ist gut so.

Anders verhält es sich mit den variablen Elementen von Normalität. Bis vor einhundert Jahren war es beispielsweise normal, dass Frauen in Deutschland nicht wählen dürfen. Und noch vor fünfzig Jahren war es aufgrund gesetzlicher Regelung normal, dass ein Ehemann darüber entscheidet, ob seine Frau berufstätig sein darf. Normalitäten, die heute so gut wie vergessen sind. Ebenso wird vieles von dem, was uns heute normal erscheint, in zwanzig oder fünfzig Jahren vermutlich nicht mehr vorstellbar sein.

Einem Projekt in Indien gelang es vor kurzem, dass Menschen, die im selben Ort leben, aber unterschiedlichen, sich feindselig gegenüberstehenden Kasten angehören, in ein kooperatives Miteinander gefunden haben und sich heute selbst fragen, weshalb sie so lange glaubten, dass genau das unmöglich sei. Sie haben eine alte Normalität abgelegt und eine neue Normalität miteinander geschaffen.

Das Beispiel zeigt, wie repressiv und destruktiv tief verwurzelte kulturell gesetzte kollektive Normen wirken können. Es zeigt aber auch, dass solche Normen nicht für die Ewigkeit geschaffen sind, sondern beweglich sind – wenn es Grundwerte und mitmenschliche Impulse gibt, die sie in Bewegung bringen.

Individuelle Normalität

In einer offenen Gesellschaft lebt jeder Mensch im Rahmen von verbindlich vereinbarten Werten und Regeln sein Leben so wie er das möchte. Auf dieser Grundlage lebt er in seiner eigenen individuellen Normalität, die der seines Nachbarn oder irgendeines anderen Menschen sehr ähnlich sein kann, sich aber auch deutlich von ihr unterscheiden kann. Normalität bewegt sich in einem Spielraum der Toleranz.

Für einen Menschen, der in einem Unternehmen angestellt ist, sieht die alltägliche Normalität anders aus als für einen freiberuflich Selbständigen oder erst recht für einen freischaffenden Künstler. Da sind zehn und mehr Stunden Arbeit am Tag oder in der Nacht normal. Würde man die Normalität des Berufsalltags danach definieren, was die Mehrheit erlebt, dann wäre das ein geregelter Arbeitsalltag von 9 bis 17 Uhr mit festem Einkommen. Das Arbeitsleben freischaffender Künstler oder freiberuflich selbständiger Unternehmer passte noch nie in diese Norm. Ist für diese Menschen aber dennoch normal.

Das gilt genauso für die individuellen Lebensverhältnisse. Lebt ein Mensch allein als Single, in einer hetero- oder homosexuellen Ehe oder Partnerschaft, lebt er mit oder ohne Kinder, mit den eigenen Eltern oder in einer Wohngemeinschaft – all diese Lebensformen sind im Rahmen der heute geltenden Gesetze und vereinbarten Werte normal. Das ist gut so. Doch das war keineswegs immer so.

Kollektive Normalität

In totalitären Gesellschaften wird eine bestimmte Denk- und Lebensweise zur Norm für alle erklärt. Auch wenn sich im Hintergrund die individuellen Lebensweisen immer noch voneinander unterscheiden, bleibt im Vordergrund der Fassade ein Zwang zur Demonstration von Gleichheit und Einheitlichkeit. Ein Abweichen von der gesetzten Norm wird nicht geduldet, wird verfolgt und bestraft, obwohl es niemandem schadet. So entsteht die normative Macht der Mehrheit. Das hat nichts mit dem Mehrheitsprinzip der Entscheidungsfindung in einer demokratischen Gesellschaft zu tun.

In einer offenen Gesellschaft, die auf die Intelligenz und Schaffenskraft der Vielfalt setzt, beansprucht die Mehrheit für sich keine normative Vorherrschaft über Minderheiten. Im Gegenteil: sie respektiert die Meinungen von Minderheiten, so lange sie die gemeinsamen Werte teilen. Und insbesondere schützt sie Minderheiten, die des Schutzes einer Gemeinschaft bedürfen.

Im zwischenmenschlichen Austausch und der konkreten Zusammenarbeit entsteht eine gemeinsame Normalität. Grundlage dafür ist, dass ein jeder sich frei bewegen, tun und lassen kann was er möchte, solange er damit nicht die Freiheit eines anderen einschränkt oder ihm damit schadet. Die eigene Lebensweise nicht zum Maßstab für andere zu machen, ist unbedingte Voraussetzung dafür, dass diese Art gemeinsamer Normalität entstehen kann. In dieser Normalität ist es normal, dass Menschen anders aussehen als man selbst. In einem Einwanderungsland ist eine reflektierte Toleranzbreite Voraussetzung für eine gemeinsam erlebte, wertebasierte Normalität.

Die Geschichte lehrt uns Vorsicht im Umgang mit dem Normalen

Normen halten eine Gesellschaft zusammen. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart hinein zeigt, wohin es führen kann, wenn diese Bindungskraft ideologisch benutzt und missbraucht wird, um das, was nicht ins normative Schema dieser Bindung passt, zu isolieren, zu unterwerfen oder gar zu vernichten. Wer nicht der Norm entspricht, wird bekämpft.

Der Kolonialismus der Europäer hat sich selbst über Jahrhunderte hinweg zum Maßstab für den Rest der Welt gemacht und schreckte auch dann, als die Aufklärung längst ihren geistigen Siegeszug angetreten hatte, nicht vor schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurück, wenn es darum ging, die eigene Norm zum eigenen Vorteil durchzusetzen.

Noch vor einhundert Jahren wurden Menschen aus Afrika nach Deutschland gebracht und in einer Art von Menschenzoo als abnormale Exoten ausgestellt. Gegen Eintrittsgeld konnten sie besichtigt werden. Zirkusunternehmen, die es bis heute noch gibt, verdienten damals viel Geld auf Basis dieser Art von Definition was normal ist und was nicht.

Über Jahrhunderte hinweg etablierte sich das Regiment des Normalen auf dieser Welt als Regiment des weißen Suprematismus – vom Versuch, die indianischen Ureinwohner Nord- und Südamerikas auszurotten bis hin zur missionarischen Bekehrung der „Wilden“ in Afrika. Die Folgen dieser Selbstherrlichkeit wirken bis heute nach. Die tägliche Normalität brutaler Polizeigewalt gegen die afro-amerikanische Bevölkerung in Nordamerika kommt in diesen Wochen ans Tageslicht wie nie zuvor und damit ins Bewusstsein auch der Menschen, die sie nicht täglich erleben. Eine Normalität, die es zu überwinden gilt, überall wo sie sich etabliert hat. „Es ist nicht schlimmer als früher, aber nun wird es gefilmt“ meinte Will Smith, einer der bekanntesten und erfolgreichsten afroamerikanischen Filmstars dieser Zeit. Was normal ist, muss nicht richtig sein. Deshalb ist es wichtig, jede Normalität immer wieder zu hinterfragen.

Wer bestimmt was normal ist?

Als in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts die Frage aufkam, was Intelligenz ist, wurde erstmals ein Intelligenztest entwickelt. Das führte damals zur Definition „Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst“. Daran glauben auch heute noch viele, ohne zu hinterfragen, wer diese Tests eigentlich entwickelt und welche Art von Fragen und Aufgaben es sind, die die angebliche Intelligenz eines Menschen feststellen sollen. Am Ende des Tests steht der IQ – eine magische Ziffer, die für sich beansprucht, die Intelligenz eines Menschen gemessen zu haben.

Zum Glück gibt es bislang keinen „Normalitätstest“, der zu einem „NQ“ führen würde. Man stelle sich nur einen Moment lang vor, dass es ihn gäbe und weiß sofort, in welchem gesellschaftlichen Szenario man sich dann wiederfinden könnte. Totalitäre Systeme haben ihr paranoides Regime auf jeweils eigene Weise immer wieder normativ definiert und gewaltsam durchgesetzt – Stalinismus und Nationalsozialismus sind hierfür abschreckende Beispiele im 20. Jahrhundert.

Ein Blick in die Gegenwart der Volksrepublik China zeigt, wie aufgrund neuester digitaler Überwachungstechnologie das öffentliche Alltagsverhalten von Menschen beobachtet, kontrolliert und in ein normatives Bewertungsschema eingeordnet wird. In der Konsequenz dieser Bewertung ergibt sich für das weitere Leben dieser Menschen eine dementsprechend wachsende staatliche Einflussnahme. In China wird dieser Überwachungsalltag aufgrund der heute herrschenden Machtverhältnisse in den nächsten Jahren normal werden.

Normalität in Zeiten von Corona

Lange waren es mächtige Herrscher, die in der Geschichte zu bestimmen versuchten, was die Mehrheit denkt. In Zeiten des Internets sind neue, bisher unbekannte Mächtige hinzugekommen, die „Influencer“ und Meinungsmacher vor und hinter den Kulissen. Sogenannte Bots verbreiten systematisch sogenannte Informationen, die sich bei genauem Hinsehen als Lügen und Erfindungen erweisen. Das macht die Sache nicht einfacher. Sie schaffen Normalitäten in den Köpfen von Menschen, die mit der tatsächlichen Lebenswirklichkeit wenig bis gar nichts zu tun haben.

Und nun kommt urplötzlich auch noch ein Virus daher, wirft geradezu von einem Tag auf den anderen alles über den Haufen, was für uns bisher normal war und schafft eine neue Normalität. Eine massive Intervention ins System unserer bisherigen Normalität! Zur Verunsicherung durch die Gefahr der Ansteckung und eines tödlichen Krankheitsverlaufs kommt eine Verunsicherung in den verschiedensten Lebensbereichen des Alltags.

Ob und warum wir aus dem Haus gehen, ob wir Freunde treffen, unsere Eltern im Pflegeheim besuchen , ob wir uns die Hand geben oder uns umarmen – die Antworten auf diese Fragen haben durch die Verbreitung des Coronavirus eine neue Normalität in unser Alltagsleben gebracht. Das damit verbundene emotionale Verzichtserlebnis ist gravierend.

Inzwischen sind die Vorschriften gelockert. Die Normalität, die wir sie bis vor wenigen Monaten kannten, ist damit aber nicht zurückgekehrt. Doch letztlich bestimmt auch in diesen Zeiten jeder Mensch selbst, was er für normal und gut hält. Jeder kann sich informieren und wissen, was vernünftig ist, auch wenn es der Normalität seines bisherigen Lebens widerspricht. Damit bestimmt er immer auch die Dimension seiner eigenen (Mit)Menschlichkeit. Denn solange es keinen Impfstoff gegen dieses Virus gibt, ist Vorsicht ebenso geboten wie Rücksicht. Jeder kann jeden anstecken und keiner weiß vom anderen, ob er infiziert ist oder nicht. Vielleicht macht uns diese Zeit bewusst wie wichtig es ist, dass jeder klärt, was für ihn in den Toleranzraum des Normalen gehört und was nicht. Diesen Toleranzraum für sich selbst zu definieren ist Teil der neuen Normalität.

Es ist gut für alle, sich an Abstandsregelung und Maskenpflicht zu halten. Eine Norm, deren Sinn nicht schwer nachzuvollziehen ist. Zumal ihre Einhaltung dazu beizutragen wird, dass die Entwicklung kontinuierlich weitere Lockerungen zulässt. Dabei lernen wir gerade, neue Prioritäten zu setzen. Eltern, Großeltern, Kinder, Lebenspartner und enge Freunde stehen an erster Stelle. Urlaubsflüge in ferne Länder, Disco-, Kino-, Konzert- oder Restaurantbesuche und vieles mehr ist nicht unwichtig geworden, bekommt in Zeiten wie diesen aber einen veränderten Stellenwert. Das sage ich als Mensch, für den ein wöchentlicher Besuch im Kino bis vor drei Monaten normal war.

Irgenwann wird der Tag kommen, an dem das wieder zur Normalität meines Lebens dazugehören wird. Auf diesen Tag freue ich mich schon heute wie ein Kind auf Weihnachten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

More Dagmar Woyde-Koehler

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