Thoughts & Insights
Klarheit im Geist
Die Frage nach dem Geist, der in den Menschen wohnt, stellt sich seit Jahrtausenden. Am Pfingstsonntag eines außergewöhnlichen und denkwürdigen Jahres wie diesem - das ja noch nicht einmal seine Mitte erreicht hat- stellt sich diese Frage in besonderer Weise. Und das wohl nicht nur denen, die die Bedeutung dieses Festes kennen und verstehen.
Es wäre unmöglich und deshalb ebenso verwegen wie vermessen, diese Frage hier in wenigen Absätzen beantworten zu wollen. Die größten Denker der Menschheitsgeschichte haben sich an ihr abgearbeitet und dennoch bleibt es bis heute eine Frage, über die immer wieder neu nachzudenken ist.
Wenn ich heute das Pfingstfest zum Anlass für diese „Thoughts & Insights“ nehme, dann tue ich dies nicht zuletzt in liebevoller Erinnerung an meine Freundin Annemarie Monteil. Für sie, die bereits achtzig war, als ich sie durch Fritz Haller, den visionären Architekten und einstigen Professor von OUBEY in der Arbeit fürs MINDKISS Projekt nach OUBEYs Tod kennenlernte, war Pfingsten ihr liebstes Fest.
Sie war eine kluge, reflektierte und scharf analysierende Frau, bis ins hohe Alter aktiv, respektiert und anerkannt als „Grand Dame der Kunstkritik“ in der Schweiz. Das Glück ließ aus unserer allerersten Begegnung im Jahr 2005 eine Freundschaft wachsen, die bis zu ihrem Tod vor eineinhalb Jahren nicht nur anhielt, sondern sich durch gegenseitige Besuche, stundenlange intensive Gespräche und einen persönlichen Briefwechsel wie es ihn heutzutage wohl nicht mehr allzu oft gibt, von Jahr zu Jahr immer mehr zu einer geistigen und seelischen Verbundenheit entwickelte.
Die Geschichte vom stürmisch aufbrausenden Himmel, der den Geist in Feuerzungen herabregnen lässt und die Schar der anwesenden Apostel erfüllt, hatte es ihr angetan. Ein interessantes Beispiel frühzeitlichen Storytellings, das seine Wirkung damals nicht verfehlte. Denn in diesem Geist wurde dereinst die Kirche begründet, heißt es. Doch es wird selbst mehr als zweitausend Jahre später wohl immer noch eine Weile dauern, bis sie von diesem Geist wirklich durchdrungen sein wird. Dank eines zunehmenden kritisch-aufklärerischen Geistes ist sie immerhin auf einem guten Weg.
Ein klarer Geist wäre angesichts der absonderlichsten Verschwörungsfantasien, die in diesen Tagen aus der Innenwelt ungeklärter Geister ausbrechen und um sich greifen heute mehr als wünschenswert. Und ein bisschen mehr Philosophie im Alltagsdenken würde sicher auch nicht schaden.
Die Wissenschaft reklamiert für sich den „klaren Geist“ als forschende, analysierende und beweisführende Disziplin menschlichen Denkens und dies zurecht. Da sie in immer neue, bislang unbekannten Welten vordringt, die sie zu verstehen und erklären sucht, kann sie trotz klarem Geist niemals frei von Fehlern sein. Manche wissenschaftliche Erkenntnisse, die jahrzehntelang als unangreifbar richtig galten, wurden durch neuere Erkenntnisse zumindest fragwürdig, wenn nicht gar widerlegt. Zum klaren Geist einer jeden Wissenschaft gehört deshalb das Wissen um die eigenen Anfälligkeit für Irrtümer und falsche Rückschlüsse.
Anders ist es mit der Kunst. Sie kann weder richtig noch falsch sein, wenn sie denn wirklich freie Kunst ist und nicht irgendeinem Interesse dient – sei es politisch-ideologischer oder monetärer Art. Damit sie entstehen kann, braucht es einen freien und klaren Geist. „In meiner Kunst habe ich stets versucht, eine klare Umgebung für den Geist zu schaffen“ sagte Henri Matisse, der seinen eigenen Geist immer und immer wieder anregte, indem er die Welt so weit bereiste wie wohl nur wenige Künstler seiner Zeit es taten und dabei nie satt wurde, ihre Vielfalt zu entdecken. Dabei war er als Maler immer auch auf der Suche nach dem Licht. Licht und Geist.
Doch es muss nicht die Reise eines Künstlers um die Welt sein. Jeder Mensch, der seinen Geist lebendig und offen hält für Neues, Anderes und Überraschendes, unternimmt immer wieder gedankliche Reisen ins eigene Innerste wie auch in die Möglichkeiten einer besseren Zukunft. Dieser Geist bedarf nicht des Siegels der Heiligkeit, um die Menschheit voranbringen zu können.
Dass sich ausgerechnet am heutigen Pfingstsonntag, nach fünf Tagen und Nächten des Protests in vielen nordamerikanischen Städten ein neuer Geist offenbart, zeigt das Beispiel des Sheriffs von Flint in Minnesota, Chris Swanson. Er machte das unmöglich scheinende möglich, als er die protestierenden Demonstranten, die nach dem Tod des Afro-Amerikaners George Floyd durch brutale Polizeigewalt in Minneapolis Respekt, Gerechtigkeit und das Ende der Rassenjustiz in den USA forderten, fragte was er ihrer Meinung nach tun soll. Ihre Antwort: „Geh´mit uns“. Das tat er und forderte zugleich die anwesenden Polizisten auf, es ihm gleich zu tun. Und sie taten es. So einfach kann es sein, wenn der Geist klar und das Herz offen ist. Möge dieser klare Geist ansteckend sein, von Dauer und nachhaltiger Wirkung.
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