Thoughts & Insights
Eine leise Wohltat in lauten Zeiten
Er ist leicht und schwer zugleich dieser Film. Eine Wohltat fürs Auge, fürs Ohr und vor allem für die Seele. In Zeiten wie diesen allemal. Nomadland - der erste Film, den ich heute Abend im Kino gesehen habe, seit vor mehr als neun Monaten die Kinos in Deutschland wegen der Pandemie schließen mussten.
Eine große Wolke der Sehnsucht stand still über dieser Zeit. Sie verflüchtigte sich bereits nach wenigen Minuten im Kino, für einen kurzen Moment, bevor sie sich in eine Wolke glücklicher Wehmut verwandelte, die diesen Film von seinem Anfang bis zu seinem Ende begleitet. Zwei Gefühle, die sich in einem Moment ganz ungeplant treffen als gehörten sie zusammen.
Dabei geht es zwar auch um den wunderbaren Film Nomadland, der mich sehr berührt hat. Doch nach der längsten Kinoabstinenz meines Lebens geht damit einher auch eine Liebeserklärung an den Film und ans Kino überhaupt.
Seit der großartige Pionier des Kinos Georges Méliès vor mehr als einhundert Jahren in Paris sein größtes Lebensabenteuer damit begann, alles, was er hatte, in die Produktion von Filmen zu stecken, gehören Filme zu einer faszinierenden Dimension von Wirklichkeit, die nur dann erlebbar wird, wenn man im weichen Sessel eines großen dunklen Raums sitzt, ausgestattet mit brillianter Leinwand und bester Akustik, und binnen weniger Minuten so tief hineingezogen wird in das Geschehen auf dieser Leinwand, dass man den Rest dieser Welt vergisst. Wie man Filme von solcher Qualität macht, haben viele Regisseure und Produzenten uns immer wieder gezeigt. Einer der besonders guten unter ihnen, Martin Scorsese, hat Georges Mèliés mit seinem grandiosen 3D-Film Hugo Cabret posthum die Ehre erwiesen, die der längst verdient hatte.
Ja, das kann sehr wohl zusammen gehen: Hollywood mit seiner gigantischen Maschinerie kommerzieller Filmproduktion und die feine, fantastische Geschichte eines europäischen Filmpioniers und das Ganze auf höchstem technischen Level. Es war wohl auch für Martin Scorsese selbst eine Frage der Ehre. Und auch im Fall von Nomadland zeigte sich Hollywood beeindruckt, denn die „Academy“ zeichnete den Film dieses Jahr mit drei Oscars aus: einen für den Film, einen für die wirklich großartige Regieleistung der jungen Chloé Zhao und einen für die unvergleichliche, immer ganz sie selbst seiende Frances McDormand. Wie sehr sie immer sie selbst ist, wenn sie spielt, wird in diesem Film deutlicher als in allen ihren früheren Filmen. Denn hier spielt sie zusammen mit Menschen, die keine Schauspieler sind, sondern echte Nomaden. Und sie spielt sie nicht an die Wand, sondern fühlt und fügt sich ein als wäre sie selbst eine von ihnen, lässt sie im Zusammenspiel voll zur Geltung kommen. Sie lebt mit ihnen für die Dauer der Drehzeit das Leben, das viele Amerikaner führen, die sich aus der Beengtheit des niedergelassenen Wohlstandsdaseins befreit haben – mehr oder weniger freiwillig. Frances McDormand ist eine schauspielerische und menschliche Ausnahmeerscheinung in Hollywood. Gut, dass es sie gibt. Und gut, dass es diesen Film gibt. Er setzt dem lärmenden Getue dieser Tage, in denen die kollektive Empörungsbereitschaft gelegentlich skurrile über sich selbst hinauswächst, etwas entgegen, das ebenso leise wie eindrucksvoll ist, indem er diese Geschichte erzählt. Alles andere über diesen Film finden Sie am besten heraus, indem Sie ihn sich selbst anschauen.
Überhaupt wäre es meine Bitte und auch zugleich meine Empfehlung an Sie, nun wieder und so oft wie möglich ins Kino zu gehen, denn nur so werden die Lichtspielhäuser im Wettbewerb mit den Streamingdiensten dauerhaft eine Chance haben. Diese Dienste waren, ähnlich wie Internetlieferanten jeder Art – nämlich die großen Profiteure des Lockdowns im Filmgeschäft. Auch ich habe mir manchen Film während des Lockdowns zuhause angeschaut, aber nur, wenn er von TV-Sendern ausgestrahlt wurde – keinen einzigen im Programm der großen Streaming-Dienste.
Bereits in den späten 60er und frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Kino schon einmal totgesagt. Wim Wenders, wohl einer der besten deutschen Filmregisseure, widmete zu dieser Zeit dem Untergang des Provinzkinos einen seiner ersten, unbedingt sehenswerten Filme Im Lauf der Zeit. Doch das Kino erfand sich neu, überlebte und erlebte eine Wiederauferstehung wie sie kaum einer je vorhergesagt hätte. Es wäre schön, wenn das nun ein zweites Mal gelingt. Denn die wirklich großen Filme brauchen eine wirklich große Leinwand und die volle, ununterbrochene Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer. Für echtes Kino gibt es keinen Ersatz.
Den Kino-Entzug des letzten Jahres konnte ich durch Musik und Lektüre eher kompensieren als durch Filme im Bildschirmformat – und sei die Diagonale noch so groß und die HDTV Qualität noch so hoch. Denn ich liebe auch diese ureigenen Filme, die beim Lesen eines Romans oder beim Hören guter Musik in meinem Kopf entstehen. Doch ich liebe es genauso, das zu sehen, was andere aus den ureigenen Filmen in ihren Köpfen dann für die ganze Welt auf die Leinwand bringen. Und das ist schon so seit ich nicht mal zehn Jahre alt war und für 50 Pfennig am Samstagnachmittag im Gemeindesaal meiner Heimatstadt, der alles andere als ein Kinosaal war, zusammen mit einer johlenden Menge am Boden sitzender Kinder Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd, „Fuzzi“ und „Pater Brown“ sah. Diese Liebe zum Kino teilte OUBEY mit mir wie kein anderer Mensch vor und nach ihm in meinem Leben. Vielleicht haben mich die zwei Zeilen, die im Abspann von Nomadland für einen Augenblick die komplette Leinwand für sich hatten, auch deshalb so berührt:
Gewidmet allen, die uns verlassen haben. Man sieht sich.
Die Geschichte, die dieser Film bis dahin einhundertzehn Minuten lang intensiv und fesselnd erzählt, findet an dieser Stelle ihren existenziellen Moment der Singularität – ganz im Sinne von Thomas Pynchon, um dessen großartigen Monumentalroman Gravity´s Rainbow es im letzten Beitrag ging. Nomadland ist alles andere als monumental. Der Film ist so schlicht und reduziert wie das Leben der Menschen, von dem er erzählt. Und doch hat der Film etwas mit Pynchon´s Roman gemeinsam: Die Idee, dass diejenigen, die irgendwann vom Blitz des Lebens getroffen werden, zwar immer noch in dieser Welt weiterleben, zugleich aber von da an auch in einer anderen Welt zuhause sind. Diese andere Welt ist denen, die der Blitz des Lebens bis dahin nicht getroffen hat, fremd. Die „Getroffenen“ erwecken den Anschein als seien sie noch immer von dieser Welt, was rein physisch auch der Fall ist. Sie arbeiten, wie in Nomadland, bei Amazon, Fast Food Restaurants oder gehen anderen Kurzeitjobs nach, um ihre Existenz zu sichern. Doch in ihrem Herzen, in ihrer Seele leben sie in einer anderen Welt. Im Nomadland?
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