Thoughts & Insights
„Wenn Sie ein Gebäude wären …
… welches Gebäude wären Sie dann?“ wurde OUBEY im Verlauf eines Interviews gefragt, das anlässlich seiner ersten und einzigen Ausstellung im Jahr 1992 stattfand. Ohne zu zögern und ohne weiteren Kommentar antwortete er: „Das World Trade Center in New York“.
OUBEY war zeit seines Lebens niemals in New York. Seiner prompten Antwort auf diese ungewöhnliche Frage lag kein persönliches Erlebnis zugrunde, das eine besondere Verbundenheit zu diesem Gebäude hätte erzeugen können. Und doch war er ihm so verbunden, dass er auf diese Frage diese Antwort gab. Er kannte die architektonische Konzeption, die Konstruktion, die Statik, die technischen Daten. Und er liebte die vollkommene Ästhetik der Twin Towers – vom ersten Tag an seit es sie gab.
Im November 2005 war ich zum ersten Mal in meinem Leben in New York. Ein Zweitages-Trip aus dem einzigen Grund, den Grafikdesigner Stefan Sagmeister zu fragen, ob er eventuell ein Buch über OUBEYs Kunst gestalten würde. Ich nutzte die knappe Zeit, um mit der Metro an die Südspitze Manhattans zum Ground Zero zu fahren – vier Jahre nach 9/11. Ich wollte und musste diesen Ort besuchen, an dem dereinst die Twin Towers so stolz und mächtig aufragten und an dem sich nun das Grauen der Verwüstung mit den Arbeiten am Fundament für das zukünftige Memorial vermischte. Seither kehrte ich jedes Mal, wenn ich in New York war, an diesen Ort zurück, zuletzt vor wenigen Wochen.
In der erstmals seit 2001 wieder freigegebenen Greenwich Street stehend, bekam ich eine Vorstellung davon, wie es gewesen sein mag, wenn man hier vor dem 11. September 2001 gestanden hat und an den Türmen hinaufblickte, um deren oberes Ende zu erahnen.
Vor drei Jahren ergab es sich zufällig, dass ich beim Zappen in den Dokumentarfilm „Man on Wire“hineingeriet. Der Film zeigt, wie der junge Franzose Philippe Petit sich mit einigen Freunden gemeinsam sechs Jahre lang intensiv auf die wohl verrückteste und waghalsigste Drahtseilaktion aller Zeiten vorbereitet und sie dann auch tatsächlich am 7. August 1974 exerziert: auf einem Drahtseil, gespannt zwischen den Spitzen der beiden Türme des World Trade Centers. Wahnsinn! Das ganze Unterfangen war illegal, musste vor Ort im Geheimen vorbereitet werden, und am frühen Morgen dieses Tages stattfinden, obwohl es neblig war. Die Dokumentaraufnahmen zeigen alles, was man sehen muss, um es glauben zu können: wackelig, unscharf, authentisch, und absolut atemberaubend. Mit seinem abenteuerlichen Wagnis hat Philippe Petit, begeistert von der Einzigartigkeit dieses Gebäudes, von dem er sich zu dieser spektakulären Aktion geradezu eingeladen fühlte, den Twin Towers ein einzigartiges Denkmal gesetzt.
Nun kommt in wenigen Tagen ein Film in die Kinos, „The Walk“, der diese Geschichte erzählt. Ich werde ihn mir anschauen. Obwohl vom Regisseur Robert Zemeckis sicher hervorragend inszeniert, wird er dennoch nicht an die Wirkungskraft der authentische Dokumentation über den „Man on Wire“ heranreichen können. Allein schon aus dem Grund nicht, weil in Zemeckis´ Film die Twin Towers nur noch virtuell existieren.
Im Dokumentarfilm stehen sie tatsächlich und leibhaftig noch da, wo sie einst standen, und wo heute nur noch die Erinnerung an ihre einstige Existenz existiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat diese Geschichte auch etwas mit OUBEYs Bekenntnis aus dem Jahr 1992 zu tun, welches Gebäude er sein wollte, wenn er ein Gebäude wäre. Als er seine Antwort gab, standen die Türme noch und 9/11 war genauso unvorstellbar wie es der Drahtseilakt des Philippe Petit einst gewesen war.
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