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Kunst ist ein Lebensmittel
Was ist Kunst? Über ihre Bedeutung und Funktion für die Menschen gibt es unterschiedliche Meinungen. Für manche ist sie eine Handelsware, für andere sogar eine Geldanlage. Wieder andere sehen in ihr einen luxuriösen Zeitvertreib für sogenannte Eliten, auf den die Allgemeinheit gut verzichten könnte. Und dann gibt es auch die, die meinen, dass der Mensch ohne Kunst nicht leben kann.
Nach meinem Verständnis liegt die wirkliche Bedeutung von Kunst nicht darin Luxus für Eliten oder Spekulationsobjekt für Anleger zu sein, und ihr Sinn liegt auch nicht darin von Experten analysiert zu werden. Im Gegenteil: Kunst ist gehört zum Leben und sie ist für jeden da – sei es zum Genuss, zur Selbsterkenntnis oder zum Weltverständnis.
Kunst kommt aus dem Leben
Woher kommt die Kunst? Sie kommt aus den Fragen, die der menschliche Geist an das Leben stellt und aus den Erfahrungen, die er in diesem Leben gewinnt. Kunst kommt aus dem Leben und gehört zum Leben. Genau dort liegt ihr Anfang.
Schauen wir uns heute die Höhlenmalereien unserer frühen Vorfahren an, die vor mehr als 30.000 Jahren entstanden sind, dann bekommen wir eine Vorstellung davon, was Kunst für sie bedeutete. Und wir erkennen, dass sie über eine erstaunliche Kunstfertigkeit verfügten. Mit einfachsten Mitteln erschufen sie auf den Wänden der Höhlen, in denen sie Schutz vor Wind, Wetter und wilden Tieren suchten, spirituell wirkende Bilder aus ihrem Leben, die uns heute noch in Erstaunen versetzen, berühren und die wir ohne große Erklärungen bis heute intuitiv sofort verstehen, wenn wir sie sehen. In diesen Wandzeichnungen hielten sie Szenen aus ihrem Leben fest, die für sie von besonderer Bedeutung und mit starken Gefühlen verbunden waren. Durch die Kunst brachten sie das, was sie erlebten und was sie im Innersten bewegte, zum Ausdruck und teilten es auf bleibende Weise mit ihren Stammesgenossen und Mitmenschen – bis zum heutigen Tag. Durch ihre Kunst bekam das Leben unserer Vorfahren eine andere, neue Qualität. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Kunst gibt unserem Leben eine besondere Qualität.
Kunst tut der Seele gut
Auch wenn die Welt, in der wir heute leben, eine ganz andere ist als die unserer Vorfahren in der Steinzeit, sind die grundlegenden Fragen doch immer noch dieselben. Wir sind in der wissenschaftlichen Erforschung des Lebens auf dem Planeten Erde wie auch im Weltraum, der uns umgibt, so weit wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Auf die uralten, grundlegenden Fragen dem Woher, Wohin und Wozu dieses Lebens kann aber auch die Wissenschaft keine Antworten geben. Die Religionen dieser Welt glauben, sie könnten es. Anders die Kunst. Sie gibt keine Antworten. Sie öffnet einen Denkraum, bietet Denkanstöße, sich mit den Fragen zu beschäftigen, überlässt die Antwort aber dem Betrachter, Zuhörer oder Leser – dem selbständig denkenden und suchenden Mensch. Kunst schafft Freiraum für den Geist und sie tut der Seele gut. Deshalb ist Kunst wertvoll und wichtig, nicht weil sie Geld einbringt.
Nehmen wir als anderes Beispiel die Musik. Wenn ich mir Tschaikowsky´s „6. Sinfonie“, Debussy´s „Claire de Lune“ oder Beethovens „Mondscheinsonate“ anhöre, dann erlebe ich für einen kurzen Augenblick so etwas wie das Eins-Sein mit Allem. Ich finde in diesen Klängen und Harmonien keine wissenschaftliche Erklärung und keine eindeutige Antwort auf die tiefen und ursprünglichen Fragen an die Welt und das Leben. Aber ich emp(finde) so etwas wie eine unerklärliche Ahnung. Kunst stillt den Hunger des Geistes und den Durst der Seele nach dem Finden und Verstehen des eigenen Seins. Sie kann Balsam für die Seele sein – beim Anschauen und Zuhören, aber ebenso beim Tun, beim Musizieren, Singen oder Malen.
Kunst ist ein Lebensmittel
So verstanden ist Kunst im Grunde ein Lebensmittel. Wie wäre ein Leben ohne Kunst? Wenn es ums physische Überleben geht, stehen ganz sicher andere Faktoren als die Kunst an erster Stelle. Wir brauchen Wasser, Nahrung, Schutz vor Kälte und Hitze und wir brauchen medizinische Versorgung. Und doch waren es in der Zeit des harten Lockdowns aufgrund der Corona-Krise gerade auch die allabendlichen Konzerte von den Balkonen, die eine Energie und Überlebenskraft verströmten, deren Wirkung sich nicht mit einem Thermometer messen lässt, die aber dennoch unzweifelhaft als positive Kraft auf die Gemüter wirkte – ganz besonders in Italien, aber auch in Deutschland und anderen Ländern.
Als die Titanic sank, wurde ihr Untergang vom Geigenspiel der Violinisten begleitet, die fürs Spiel im pompösen Ballsaal engagiert waren. Auch wenn ihr Spiel in der Unglücksnacht keinen Passagier vor dem Ertrinken rettete, bewahrte es die verzweifelt nach Rettung Suchenden doch wenigstens vor der trostlosen Stille, in der sich das dramatische Geschehen ansonsten abgespielt hätte. Das sind makabre Beispiele, denken Sie vielleicht? Mag sein – und doch sagen sie uns viel über die Bedeutung der Kunst für das Leben der Menschen – bis ins Sterben hinein.
Glücklicherweise kam es auch im Lockdown nicht zu einem kompletten Kunst- und Kulturentzug über Monate hinweg. Denn neben den offiziellen medialen Kulturprogrammen im Fernsehen und Internet wurden und werden die digitalen Möglichkeiten inzwischen auch von Solokünstlern und Theatergemeinschaften genutzt, um die Verbindung zur Öffentlichkeit und damit auch zum Leben aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Das ist kein Ersatz für ein echtes Konzerterlebnis, eine echte Ausstellung oder einen Film auf Großleinwand im Kino. Es ist wie Konservennahrung im Unterschied zu einer frisch zubereiteten Speise, aber es es deckt doch wenigstens den Grundbedarf.
Und nicht zuletzt stellt sich hier die Frage, wie und wovon all die freien Künstler überleben sollen, wenn sie nicht auftreten oder ausstellen dürfen. Wenn Kunst ein Lebensmittel ist, dann sind Künstler diejenigen, die uns mit diesem Lebensmittel versorgen. Wir sollten sie deshalb gerade auch in schwierigen Zeiten nicht vergessen, sondern gut behandeln und wertschätzen wie ein Glas Wasser in der Wüste.
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