Thoughts & Insights

Der aufrechte Gang

Alle Wesen, die diesen Planeten heute bewohnen, durchliefen im Laufe von Jahrmillionen eine genetische Evolution. Auf diesem Gleis der Weiterentwicklung geht es für alle nur sehr langsam voran. Wenn die Entwicklungsgeschwindigkeit einer Art allerdings so langsam ist, dass sie die Anpassung an sich radikal verändernde Umweltbedingungen nicht rechtzeitig schafft, dann stirbt diese Art aus.

In der Evolutionsgeschichte des Menschen kam es vor ca. 1,8 Millionen Jahren zu einem einzigartigen Einschnitt, der rückblickend als revolutionär bezeichnet werden muss: Der Mensch stellte sich nicht nur für einen kurzen Moment oder vorübergehend auf seine zwei Hinterbeine, wie es Affen, Bären, Katzen und Pferde bis heute ebenfalls tun können. Er lernte und blieb dabei, fortan nur noch auf zwei Füßen zu stehen und aufrecht zu gehen.

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Dieser Entwicklungsschritt war revolutionär und hatte langfristig betrachtet weltverändernde Konsequenzen. Die Vorderbeine wurden zu Armen, die Vorderfüße zu Händen. Sie wurden nicht mehr für die Fortbewegung gebraucht, sondern waren frei verfügbar, um nach und nach immer mehr praktische Probleme des Alltags auf gänzlich neuem Niveau zu lösen. Hände und Finger konnten nun zu feinmechanischen Werkzeugen werden und die Verwendung einfachster technischer Hilfsmittel führte zur Herstellung weiterer Werkzeuge. Deren Einsatz erleichterte nicht nur das Leben, sondern markierte auch den Beginn einer Entwicklung des Gehirns und einer kulturellen Linie der Evolutionsgeschichte, wie sie bis heute kein anderes Lebewesen kennt.

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Im Laufe der Jahrzehntausende gewann sie kontinuierlich an Geschwindigkeit. Von mehr als tausendjährigen Zyklen aus gestartet, sind wir heute bei einer kulturellen Entwicklungsgeschwindigkeit angekommen, die so rasant ist, dass unser Wahrnehmungsapparat und erst recht unser Bewusstsein kaum noch oder gar nicht mehr mitkommt.

Dass es ein körperlich-mechanischer Akt war, der zu dieser Unterscheidung im Entwicklungsverlauf der Evolution des Menschen führte, mag auf den ersten Blick verblüffen. Auf den zweiten Blick allerdings erscheint das sehr plausibel und wird von Paläoanthropologen wie Prof. Friedemann Schrenk vom Senckenberg Institut in Frankfurt auch mit Überzeugung vertreten. So beispielsweise in dem äußerst interessanten Gespräch, das er mit Alexander Kluge führte und das im Rahmen derAusstellung „70.000 Jahre wie ein Tag“ in der Deutsche Kinemathek zu sehen ist. Wer den Encounter von Prof. Schrenk mit einem von OUBEYs Bildern noch nicht kennt, findet ihn hier.

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In jedem Menschen wird dieser revolutionäre Evolutionsschritt bis heute übrigens als fester Bestandteil der genetischen Programms nacherlebt. Zwar kann sich kaum einer an die eigene Ekstase beim Erlebnis des ersten Aufrechtstehens und der ersten, zwar noch schwankenden, aber doch immerhin selbständigen Fortbewegung auf zwei Beinen erinnern. Aber den Eltern ein- bis eineinhalbjähriger Kleinkinder verschafft das Miterleben dieses einschneidenden Lebensereignisses einen Eindruck von der gravierenden Veränderung, die hiermit verbunden ist. Bisher ungekannte Energien werden frei. Ein erster elementarer Schritt in Unabhängigkeit und Freiheit.

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Sobald ein Mensch diesen Moment seines genetischen Programms erreicht hat, ist nichts mehr, was sich in Reichweite befindet, vor seiner Neugier sicher. Das (Selbst)bewußtsein wächst ebenso rasant wie die Lernfähigkeit. Was am Ende individuell daraus erwächst, ist ebenso offen wie das letzte Ergebnis menschlicher Evolution, das keiner von uns kennt.

 

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