Blog

Die Macht der Gewohnheit

Warum tun wir eigentlich was wir tun? Vierzig Prozent unserer täglichen Handlungen beruhen nicht auf bewussten Entscheidungen, sondern auf Gewohnheiten. Wir eignen sie uns im Lauf unseres Lebens an. Einige gewöhnen wir uns auch wieder ab. Manche sind uns lieb geworden, andere nerven uns – oder unsere Mitmenschen. Kennen Sie Ihre Gewohnheiten?

So banal diese Frage klingen mag – eine konkrete Antwort darauf ist spontan gar nicht immer so einfach wie man zunächst meinen möchte.

 

Elefant und Reiter

Das liegt daran, dass uns viele unserer Gewohnheiten überhaupt nicht bewusst sind. Wir haben sie als Routinen verinnerlicht– bis hin zum vorhersagbaren Verhalten. Das Unbewusste ist mächtig.

Jemand hat das Unbewusste einmal mit einem Elefanten verglichen, auf dem das Bewusste wie ein Mensch sitzt, der glaubt, den Elefanten zu beherrschen und ihn zu lenken, wenn er auf ihm reitet. Tatsächlich sind die Kräfteverhältnisse jedoch genau umgekehrt. Der Elefant tut das, was der Mensch von ihm will nur, wenn auch er selbst es will.

Deshalb ist die Frage, ob wir unsere Gewohnheiten im Griff haben oder ob unsere Gewohnheiten uns im Griff haben, eine sehr interessante und auch wichtige Frage. Sie führt schnurstracks zu der Frage, ob bzw. inwieweit wir in der Lage sind, unsere Gewohnheiten zu verändern. Diese Frage ist deshalb so interessant und wichtig, weil Gewohnheiten uns zwar das Leben erleichtern können; sie können es uns aber auch schwer machen, uns sogar schaden. Nicht aussichtslos, aber sehr anstrengend ist der Kampf gegen schädliche Gewohnheiten, die zur Sucht wurden. Aus diesem Gefängnis physischer oder psychischer Abhängigkeit auszubrechen ist ein Kraftakt, den manche gar nicht und die meisten nicht ohne Hilfe durchhalten.

Grund genug, sich über seine eigenen Gewohnheiten immer mal wieder Gedanken zu machen und sie kritisch zu hinterfragen.

 

Kollektiver Stillstand

Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für zwischenmenschliche Beziehungen, für Unternehmen und Organisationen verschiedenster Art und auch für ganze Gesellschaften und Kulturen. Auch dort spielen Gewohnheiten im alltäglichen Miteinander eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie alle Gebräuche, Gepflogenheiten und Sitten schaffen sie ein Gemeinschafts- und Zugehörigkeitsgefühl und damit eine gewisse Sicherheit in einer Welt, die von Unsicherheit und Risiko geprägt ist. Gute Gewohnheiten halten eine Gesellschaft zusammen, schlechte tun das Gegenteil.

Anpassung an die Gewohnheiten in einer Gruppe ist eine ambivalente Sache. Wenn es aufgrund der Machtverhältnisse in einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft zur kollektiven Gewohnheit wird, dass bestehende Normen, Vorgehensweisen oder Entscheidungen nicht hinterfragt werden dürfen, droht Entwicklungsstillstand. „Das haben wir schon immer so gemacht“ und „Das haben wir noch nie so gemacht“ lauten die Varianten ein und desselben Killerarguments, mit dem selbst die harmloseste Frage nach dem Warum einer Vorschrift oder Vorgehensweise abgeschmettert wird. Sie sind der Schutzwall gegen jeglichen Veränderungsversuch.

Solche Organisationen verlieren auf Dauer ihre Veränderungsfähigkeit und damit die Fähigkeit, sich zu weiterzuentwickeln und besser zu werden, denn das ist nur möglich, wenn Kritik erlaubt ist. Andernfalls werden Fehler unter den Teppich gekehrt, gefährliche Schwachstellen bleiben unerkannt, Anpassung und Opportunismus machen sich breit und werden unter dem entsprechenden sozialen Druck zur Alltagsgewohnheit, d.h. zu unbewusst gesteuertem Verhalten. Das kann schwerwiegende Folgen haben – von materiellen Schäden bis hin zu menschlichen Katastrophen.

Anschauliche Beispiele hierfür zeigen die Ergebnisse verschiedener Studien aus der noch jungen Disziplin der Gewohnheitsforschung. Charles Duhigg, Wirtschaftsredakteur der New York Times und investigativer Journalist, hat viele davon, basierend auf Erkenntnissen der Hirnforschung und Verhaltenspsychologie, in einem lesenswerten Buch mit dem Titel „The Power of Habit“ zusammengetragen.

 

Freiraum für Neues

Damit kein Missverständnis aufkommt: Gewohnheiten sind grundsätzlich eine sehr gute Sache, wenn sie sich auf die richtigen Handlungen beziehen. Sie entlasten das Gehirn. Was einem kleinen Kind noch höchste Aufmerksamkeit und Anstrengung abverlangt wie beispielsweise das Gehen oder das Essen mit Messer und Gabel, läuft automatisch, sobald es eingeübt worden ist. Wir brauchen uns keine Gedanken mehr darüber zu machen. Das gilt auch für alles was man später im Leben neu anfängt und lernt – vom Spielen eines Instruments bis hin zum Fahren eines Autos. Alles was man über einen ausreichend langen Zeitraum hinweg intensiv einübt und praktiziert, wird zur Routine. Der Weg dahin ist manchmal schwer, doch sobald uns etwas „in Fleisch und Blut“ übergegangen ist, wie es heißt, braucht unser Gehirn sich hierbei nicht mehr so anzustrengen. Das spart Kraft, die wir dann frei haben, um andere, kreative oder schwierige Aufgaben zu meistern.

Es geht also lediglich darum, die richtigen Gewohnheiten zu entwickeln und zu pflegen, und bei Bedarf falsche oder schlechte Gewohnheiten abzulegen oder gegebenenfalls durch gute oder bessere zu ersetzen. Klingt einfach. Doch wer schon einmal versucht hat, sich etwas, das offensichtlich ungesund ist, abzugewöhnen und/oder sich stattdessen etwas Gesundes anzugewöhnen, weiß, dass das leichter gesagt als getan ist. Winston Churchill löste das Problem einst für sich, indem er seine ungesunden Gewohnheiten einfach zum persönlichen Lebensstil erklärte. Das war seine bewusste Entscheidung.

 

Es geht auch anders

Gewohnheiten lassen sich ändern, unter Umständen sogar von einem Tag auf den anderen, wenn man erst einmal verstanden hat, wie sie funktionieren und wenn es einen ausreichend starken Anreiz dafür gibt. Individuell kann der Anreiz durch ein Aha-Erlebnis, eine ganz neue Erkenntnis oder Einsicht zustande kommen, verbunden mit dem Ehrgeiz, sich selbst  – und manchmal auch anderen – zu beweisen, dass es auch anders geht. In anderen Fällen ist es die Konfrontation mit einer medizinischen Diagnose oder der Wunsch eines Menschen, den man sehr liebt oder respektiert.

Manchmal erzwingen gesellschaftliche Ereignisse, wirtschaftliche oder politische Krisen, schlimmstenfalls sogar Naturkatastrophen oder Kriege einen Verzicht auf bisher Gewohntes. Dann ist nichts mehr wie es einmal war – eine existenzielle Herausforderung. Die pandemische Ausbreitung des Coronavirus ist eine solche Herausforderung. Sie hat zu Einschränkungen geführt wie es sie hierzulande seit mehr als siebzig Jahren nicht gab, mit gravierenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und nicht zuletzt auch psychologischen Folgen.

Es geht auch anders

Diese negativen Folgen sind ernst zu nehmen. Insbesondere mit Blick auf ihre langfristige Wirkung und die Schwachstellen in unserem Land, die es zwar schon lange zuvor gab, die durch die Krise aber so offensichtlich wurden, dass sie nicht mehr übersehen werden können. Dazu gehört zum Beispiel der aufgeblähte Bürokratismus, der schnelles und flexibles Handeln erschwert, manchmal sogar unmöglich macht.

Dass es auch anders geht, zeigt der Blick in andere Länder. Nun muss das, was woanders gut funktioniert nicht auch hier funktionieren. Etwas einfach nur nachzumachen, führt nicht unbedingt zur Lösung im eigenen Land. Aber der Blick über den vielzitierten Tellerrand bringt Anregungen und Ideen. Dann kann man sehen, ob man beim Gewohnten bleibt oder doch auch mal den einen oder anderen neuen Weg einschlägt. Individuell hat das ja ohnehin sehr gut geklappt. So manche aus der Not geborene Einschränkung setzte menschlichen Einfallsreichtum in Gang und erstaunliche Kreativität frei.

Manches geht auch anders und besser als gedacht. Vieles wird sich nach Abklingen der Pandemie wieder „normalisieren“. Ob dies eine unreflektierte Rückkehr zur früheren Normalität sein wird oder eine andere, neue Normalität mit neuen Gewohnheiten? So bitter die Erfahrungen für den einen oder anderen auch gewesen sein mögen oder immer noch sind – in ihnen liegt auch eine echte Chance: manches zu überdenken und zukünftig anders und zwar besser zu machen. Dann gewinnen wir nicht nur die Freiheit, Gewohntes endlich wieder tun zu können zurück. Wir haben dann auch die Freiheit, uns bewusst klarzumachen und zu entscheiden, welches Gewohnte uns so wichtig und wertvoll ist, dass wir es beibehalten wollen und was wir hinter uns lassen wollen. Im Bild vom Reiter und dem Elefanten gesprochen ist es ist ein kurzer Moment, in dem der Elefant schläfrig ist, der Reiter aber hellwach und aufmerksam, so dass er den Elefanten auf den Weg bringen kann, den er nehmen will.

Entspannte Begegnungen und herzliche Umarmungen mit Freunden oder der Familie, Feiern jeglicher Art, der Besuch von Kino, Theater, Konzerten, Restaurants oder Sportveranstaltungen und nicht zuletzt der Besuch von Kita, Schule oder Universität für alle Kinder und Jugendlichen – daran dürfen wir uns gerne wieder gewöhnen. Wir werden diese Normalität dann aber vielleicht in ihrem Wert mehr zu schätzen wissen als früher. Nichts ist selbstverständlich heißt die Lektion.

Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft die Chance, aus den Erfahrungen des letzten Jahres das Richtige zu lernen, nicht ungenutzt verstreichen lassen. Denn kollektive Chancen dieser Art gibt es nicht oft.

More Dagmar Woyde-Koehler

Newsletter