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Er begleitet dich ein Leben lang

Gerade mal zwölf Jahre alt, saß ich vor unserem Röhrenradio, das Tonbandgerät meines älteren Bruders auf dem Schoß, das Mikrofon in der Hand, bereit zur Aufnahme eines nächsten Songs. Eingeschaltet war der Sender, der damals als einziger täglich um 18 Uhr eine Stunde lang  Popmusik spielte. Nach jeder Ansage drückte ich die Aufnahmetaste. So auch, als mich aus dem Lautsprecher heraus unerwartet eine Stimme erreichte, die mich elektrisierte. Es war die Stimme von Bob Dylan.

Dass es die Stimme von Bob Dylan war, wusste ich damals nicht, hatte bis dahin noch nie etwas von ihm gehört. Auch den Titel des Songs kannte ich nicht. Es war Positively 4th Street, wie ich später herausfand. So begann vor vielen Jahren eine Geschichte, die bis heute andauert. „Er begleitet dich ein Leben lang“ schrieb Bono in seinem Vorwort zur Zitatensammlung „Bob Dylan – In His Own Words“1. Das gilt auch für mich.

Heute wird Dylan achtzig Jahre alt. Erst letztes Jahr hat er sein Werk um ein weiteres, großartiges Album bereichert: „Rough and Rowdy Ways“. Im ersten Song auf diesem Album singt er über sich selbst. Nicht als lyrisches Ich, sondern als Bob Dylan: „I Contain Multitudes“. Dass das so ist, hat er in seinem mittlerweile sechs Jahrzehnte andauernden künstlerischen Schaffen immer wieder aus Neue bewiesen.  Er hat sich entwickelt, aber nie angepasst, blieb sich in seiner erstaunlichen Wandlungsfähigkeit all diese sechs Jahrzehnte lang treu. Weil das so ist, sind die Versuche diverser Kritiker, ihn zwanghaft in irgendeine Schublade ihres Ordnungssystems zu stecken, allesamt gescheitert. Bis heute ist es ein Hochgenuss zu sehen, wie er bereits in ganz jungen Jahren die dümmlichen Fragen der Journalisten bei einer Pressekonferenz 1965 in San Francisco gekonnt und mit ebenso viel Sprachwitz wie Intelligenz ins Leere laufen lässt. Das allein wäre Grund genug, Bob Dylan gut zu finden.

Wie kein anderer Künstler seines Bekanntheitsgrads setzte er seine innere Freiheit gegen alle wechselnden Strömungen des Zeitgeists ebenso durch wie gegen die Erwartungen eines Publikums, das sich am liebsten in den altbekannten Songs, vorgetragen in vertrauter Art und Weise, selbst wiedererkannt hätte, und ihm Verrat vorwarf oder sein baldiges Ende vorhersagte, als er es zum ersten Mal nicht tat: Das war 1966, als er im zweiten Teil seines historisch gewordenen Konzerts in der Royal Albert Hall in London zur elektrischen Gitarre griff, begleitet von einer Band. Von der ersten zur zweiten Hälfte dieses Konzerts verwandelte sich der geliebte Singersongwriter, der mit nichts als seiner Gitarre, seiner Mundharmonika und seiner Stimme einsam und allein auf der Bühne steht, in einen Musiker, der seine Songs in vollkommen neuem Sound ertönen lässt. Ein Frevel für alle, die ihn in der Schublade des Folk- und Protestsängers untergebracht hatten.

Manche nennen seine Eigenwilligkeit Arroganz. Ich nenne es Resilienz, die in Verbindung mit einer schier unerschöpflichen Kreativität und Schaffenskraft ihresgleichen sucht. Diese Verbindung macht Bob Dylan für mich zur Ausnahmeerscheinung in einer Welt, die sich in rasantem Tempo verändert und dabei in ihrem Innersten doch allzu oft irgendwie zu retardieren scheint.

Wie frei und kreativ er mit seinen Songs umgeht, erlebte ich selbst in seinem Konzert in Oberhausen im April 2002, dem ersten und einzigen, das ich je gemeinsam mit OUBEY besuchte. Anfangs versuchte ich noch zu erkennen, welchen mir bekannten Song er mit seiner Band da jeweils gerade spielt, was sich nur mühsam an einigen Textfragmenten erkennen ließ. Nach drei oder vier Songs entschied ich mich, mit diesem Blödsinn aufzuhören und gab mich stattdessen einfach nur noch den Rhythmen und Melodien, der Stimme und dem Sound seiner großartigen Band hin, die den Saal in eine energiegeladene Schwingung versetzte wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte. So wie mir erging es den meisten. Die sehr verhaltene Anfangsreaktion wich einer kollektiven Bereitschaft, das was er uns an diesem Abend auf der Bühne bietet, anzunehmen und in vollen Zügen zu genießen. Er bediente nicht die Erwartung des Publikums. Im Gegenteil. Er tat das, was er wollte. Spielte „Blowing in the Wind“ im Walzertakt und lieferte eine Überraschung nach der anderen – souverän, auf höchstem Niveau und mit beeindruckender Grandezza und Eleganz. Indem er sich gegen die Erwartungen seines Publikums durchsetzte, entfachte er eine grandiose Begeisterung für das, worum es ihm wohl am allermeisten geht: für seine Musik. Das mitzuerleben war wunderbar. Und seine 45minütige Zugabe, zu der auch eine überwältigende Version von „Like a Rolling Stone“ gehörte, zeigte, dass auch er seinen Spaß daran hatte.

Bob Dylan ist Musiker, Sänger, Komponist und Songwriter. Vor allem aber ist er ein großer Poet. Seine Gedichte seien nur als Lieder verständlich, sagte er selbst einmal. Das stimmt. Seine Gedichte sind von den Songs nicht zu trennen. Liest man die Lyrics, hat man auch sofort den Klang des Songs in den Ohren und die Bilder der Geschichten vor Augen, die er erzählt. Da wirkt die Desolation Row ebenso wirklich wie die wirklich wahre Geschichte des zu Unrecht verurteilten Boxers Rubin „Hurricane“ Carter oder die in allen Details episch geschilderte Szenerie vom Untergang der Titanic. Er erzählt uns singend seine Geschichten und beim Zuhören werden sie zu unseren eigenen Geschichten.

Dass er vor ein paar Jahren den Nobelpreis für Literatur bekam, befriedigte ein paar Exegeten, die seit Jahren die literarische Hochwertigkeit seines Werks in akribischer Analyse und Deutung zu beweisen versucht hatten, vermutlich mehr als Dylan selbst, der dem Verleihungsakt in Oslo fernblieb. Was längst offensichtlich war, hätte dieses Beweises nicht bedurft, was dessen Berechtigung natürlich nicht in Frage stellt.

Den „Rufer aus einer zeitlosen Vergangenheit“ nannte ihn Bono1. Damit trifft er einen Wesenskern von Dylan und seiner Kunst. In einer zukunftsbesessenen Zeit schlägt Bob Dylan Bögen, die Vergangenes in die Gegenwart holen. Brücken, die vom Persönlichen ins Allgemeine führen und wieder zurück. Manchmal tut er das explizit, oft implizit. In vielen seiner Songs leben Ovid, Dante, Baudelaire und viele andere als wären sie unsere Zeitgenossen. Damit tut er das, was gute Kunst immer tut: er bringt uns in einen Austausch mit dem, was vor uns war, aber auch mit dem, was nach uns sein wird. Seine Kunst lebt nicht vom Heute, sondern von der Geschichte ebenso wie von der Zukunft. Er landet einfach immer wieder bei dem, was wirklich existenziell und wichtig ist in diesem Leben. Kein Wunder, dass OUBEY begeistert war, als er Dylan Anfang der 2000er Jahre noch einmal ganz neu für sich entdeckte. Beim nächtlichen Malen von GENESIS und den StarPixels liefen regelmäßig die beiden Sampler, die ich auf seinen Wunsch hin für ihn zusammengestellt hatte.

Mehr als alles andere aber ist Dylan wohl ein „Performing Artist. In seinen Konzerten wird nichts reproduziert oder repetitiert. Dafür gibt es ja all die Alben, auf denen seine Songs für alle Zeiten in der vertrauten Studioversion verfügbar sind. Wer an dem teilhaben will, was Dylan aus seinen Songs macht, der besucht seine Konzerte. Für die gilt, was Edward Docx in seiner ausgesprochen gelungenen Würdigung zu Dylan´s 80. Geburtstag im Guardian schrieb: „ A common experience when seeing him live is to discover that a song that you thought was about rage is suddenly transformed into something tender. Ten years on, at another concert, the same song you now think of as a tender turns out to be a wry throwaway burlesque. The burlesque later becomes an elegy. And on it goes”. So ist es.

Den Wert der Einmaligkeit eines jeden Geschehens auf der Bühne würdigte Bob Dylan in seiner Nobelpreisrede am Beispiel von Shakespeare ebenso ausdrücklich wie den Wert des Erzählens von Geschichten wie denen, die uns einst Homer erzählte, inspiriert durch den Gesang der Musen: ”The words in Shakespeare’s plays were meant to be acted on the stage. Just as lyrics in songs are meant to be sung, not read on a page. And I hope some of you get the chance to listen to these lyrics the way they were intended to be heard: in concert, or on record, or however people are listening to songs these days. I return once again to Homer, who says ‘Sing in me, oh Muse, and through me tell the story’.”

Was der Live Auftritt für ihn selbst bedeutet, brachte Dylan 1991 mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Wenn Du mal nach mir schauen willst, wenn ich neunzig bin, dann wirst Du mich irgendwo auf einer Bühne finden“1. Damals war er gerade mal fünfzig. Wenn es keine Pandemie gäbe, würde er an seinem heutigen achtzigsten Geburtstag vielleicht genau das tun: irgendwo auf einer Bühne stehen.

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1Bob Dylan – in eigenen Worten. Heidelberg 2001.

Bob Dylan – The Noble Lecture. New York 2017.

Sehr zu empfehlen: Bob Dylan – Chronicles, Volume One. Hamburg 2004.

 

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