Thoughts & Insights
35.000 Jahre moderne Kunst
Es dauerte Millionen von Jahren der evolutionären Entwicklung, bis unsere Vorfahren vor ca. 35.000 Jahren damit begannen, die Wände der Höhlen von Chauvet, Lascaux, Altamira und vielen anderen Orten im Süden Europas und Afrikas zu bemalen, in deren Schutz sie ihre Nächte und bei widrigem Wetter wohl auch ihre Tage verbrachten. Mit einfachsten Mitteln hielten sie in ihren Wandzeichnungen das fest, was sie bewegte, was sie erlebten und was ihnen so wichtig erschien, dass sie es bildlich festhalten wollten.
Heute nennen wir das, was wir an diesen Wänden vorfinden Kunst – prähistorische Kunst, um genau zu sein. Es ist eine Kunst, die dem heutigen Betrachter ebenso fremd wie nah erscheint. Fremd, weil sie frei ist von allem, was den Entstehungsprozess von Kunst in den letzten 3000 Jahren beeinflusst hat und was vor allem den heutigen Kunstbetrieb antreibt. Nah, weil sie vielleicht genau aus diesem Grund so unmittelbar, lebendig und berührend erscheint als sei sie gerade eben erst entstanden.
Der einzig mögliche Raum, in dem diese Kunst seinerzeit entstehen konnte und der seinerzeit vor allem ein Schutz- und Lebensraum für unsere Vorfahren war, wurde bereits wenige Jahrzehnte nach der Entdeckung der ersten Höhlenmalereien auch zum Schutzraum für diese Kunst. Im Unterschied zu aller anderen, später in der Sesshaftigkeit entstandenen Kunst, die auf irgendeine Weise meist beauftragte staatliche, aber immer auch öffentliche Kunst war, entstand diese frühe prähistorische Kunst unserer Vorfahren ohne Auftrag oder Bezahlung, zweckfrei aus dem Leben heraus im Verborgenen. In einem Raum geschützter Intimität.
Auch wenn es nicht um den Schutz dieser Intimität, sondern um den Schutz und Erhalt dieser originalen Wandmalerei geht, erscheint es dennoch nur konsequent, dass sie den Blicken der Öffentlichkeit bis heute und auch weiterhin verborgen bleibt. Denn die Höhlen, in denen diese originalen Wandmalereien zu sehen sind, bleiben verschlossen – zum Glück und zum Schutz dieser Kunst. Wäre das nicht so, dann würde sie vermutlich am Ansturm der Massen, dem heute alles ausgesetzt ist, was sehenswert und „instagramtauglich“ ist, elendiglich zugrunde gehen. Was für ein wunderbarer Ausnahmezustand für Kunst in diesen Zeiten!
Allein die fotografischen und filmischen Abbildungen dieser Malereien reichten aus, um Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts mehr als nur zu inspirieren. Dazu gehören so großartige Künstler wie Pablo Picasso, Paul Klee, R.A. Penck, Joseph Beuys. Sie haben sich am „Vorbild“ unserer Vorfahren abgearbeitet, und in diesem Prozess sind wunderbare Bilder und Zeichnungen entstanden. Und doch konnte kaum einer von ihnen die Unmittelbarkeit und faszinierende Einfachheit der Reduktion aufs elementar Lebendige, das den originalen Höhlenmalereien zu eigen ist, je wirklich erreichen. Wie sollte das auch möglich sein? Selbstverständlich nicht deshalb, weil es ihnen dazu an malerischen Fähigkeiten gemangelt hätte. Sondern deshalb, weil sie in einem Kontext tätig waren oder sind, in dem es eine Freiheit des Tuns, die vergleichbar mit der unserer Vorfahren vor 30.000 Jahren wäre, längst nicht mehr gab bzw. gibt – jedenfalls nicht solange ein Künstler beabsichtigt, im Kunstbetrieb erfolgreich zu sein indem er seine Werke verkauft.
Die Kunst eines Vincent van Gogh oder die Street Art eines Keith Haring oder Banksy kommen dieser lebensnahen Freiheit der Kunst vielleicht auf eigene Weise sehr nahe. Doch selbst hier ist mittlerweile der Vermarktungskontext in Gestalt von Prominenz an die Stelle der für uns anonym bleibenden Urheberschaft dieser prähistorischen Werke getreten. Diese Freiheit unserer Vorfahren, die einherging mit für uns nicht mehr vorstellbaren alltäglichen Herausforderungen der Existenzsicherung, ist für uns heute lebende Menschen nicht mehr erreichbar – weder im Alltag noch in der Kunst.
Wie gut, dass wir uns dem Vergleich mit unseren Vorfahren auch heute, mehr als 30.000 Jahre später, auf unterschiedlichsten Ebenen immer noch aussetzen können. Das sollten wir auch tun.
Dieser Beitrag basiert unter anderem auf den Inspirationen und Erkenntnissen, die ich aus meinem Besuch der Ausstellung „Préhistoire – Une énigme moderne“ mitgenommen habe, die im Sommer dieses Jahres im Centre Pompidou in Paris zu sehen war.
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