Thoughts & Insights

Die große Freiheit unter den Meeren

Ein Mensch steht barfuß im weißen Sand des Meeresbodens. Sein Körper befindet sich bis zu den Haarspitzen komplett unter Wasser.

Er trägt eine Nasenklammer und eine Taucherbrille, kein Beatmungsgerät, keine Pressluftflasche – er atmet nicht. Er steht ruhig am Rande eines Abgrunds, in den er hineinschaut und der direkt vor seinen Füßen senkrecht in die Dunkelheit eines 200 Meter tiefen Schlunds hinabführt. Er steht am Rand eines sogenannten Blue Hole. Und er atmet nicht.

Nach einem kurzen Moment der Konzentration geht er leicht in die Knie, und wagt aus diesem Schwung heraus den Absprung, um dann im freien Fall scheinbar schwerelos hinabzutauchen in diesen Schlund, dessen Boden so tief verborgen im Dunkeln liegt, dass er beim Absprung nicht zu sehen ist.

Immer tiefer und tiefer gleitet er hinunter. Hoch über ihm glitzern in weiter Ferne noch die lichtdurchschimmerten Wellen des flachen Küstenstreifens, um ihn herum wächst die Dunkelheit mit jedem Meter, den er tiefer hineintaucht. Es ist, als würde ihn eine magische Anziehungskraft so unwiderstehlich in den Bann ziehen, dass er sich diesem Sog einfach nur hingeben kann und in diesem Gleiten des freien Falls vollkommen verschmilzt mit den Elementen und Kräften, die hier am Wirken sind.

Dann erreichen seine Füße den Meeresboden. Unten angekommen, beginnt mit noch immer angehaltenem Atem der Weg zurück, hinauf in die sonnendurchfluteten Wellen des Küstenriffs am Strand von Long Island auf den Bahamas. Behende klettert er die letzte Strecke den steilen, felsigen Rand des Loches hinauf, das den Namen Dean´s Hole trägt und das tiefste bislang bekannte Meeresloch der Welt ist. Oben angekommen, dringt sein Kopf zum ersten Mal wieder über Wasser und nach diesem scheinbar ewig langen Moment vollkommener innerer und äußerer Stille nimmt er den ersten Atemzug und kehrt ins Leben zurück.

Was für ein extremes Erlebnis schier grenzenloser Freiheit! Hart am Rande des Sterbens und von einer magischen Anziehungskraft, die selbst denjenigen vollkommen in ihren Bann zieht, der dem französischen Freitaucher Guillaume Néry bei diesem Abenteuer im Dean´s Hole nur virtuell am Bildschirm folgen kann.

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Dieser unglaublichen, geradezu irritierenden Faszination konnte auch ich mich nicht entziehen, als ich den Film vor kurzem zum ersten Mal sah. Den Hinweis auf Guillaume Néry erhielt ich von einem guten Freund und Partner des OUBEY Projekts, der selbst in den Wassern unserer Meere ebenso zuhause ist wie auf dem Land und der von OUBEYs Liebe zum Wasser, zu den Ozeanen und ihren Bewohnern sowie von seiner ausgeprägten Leidenschaft fürs Tauchen weiß. Da ich damals gedanklich ohnehin gerade intensiv in den architektonischen Unterwasserwelten des Jacques Rougerie unterwegs war, erschien mir die Erkundung des Meeresgrunds durch den unmittelbaren Tauchgang eines Menschen, ohne das schützende Gehäuse eines Sea Orbiter, ohne jegliche technische Hilfsmittel, ohne Netz und doppelten Boden fast wie eine konsequente Steigerung dieser architektonischen Fantasien. Erkundung unbekannter Welten und Grenzgang der Selbsterkundung in einem.

Die faszinierende Wirkung dieses todesnahen Tauchabenteuers auf die Außenwelt ist ebenso extrem wie der Tauchgang selbst. Die Aufregung am Abgrund eines Blauen Lochs im Ozean ist vielleicht verwandt mit der Aufregungsfantasie von der Singularität am Rande eines Schwarzen Lochs im Universum, aus der es kein Entrinnen gibt, sobald man einen bestimmten Punkt der Annäherung überschritten hat. Und hinter beiden Aufregungen verbirgt sich vielleicht dieselbe Sehnsucht, mit der wir Menschen, seit wir in den Nachthimmel blicken, auch davon träumen, durch die endlosen Weiten des Alls zu schweben, um das Geheimnis unser wahren Herkunft zu enträtseln.

Die Videos zu diesem Beitrag finden Sie hier und hier.

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