Thoughts & Insights

Das Leben ist lang

Vermutlich ist es die Minderheit unter den Menschen, die dieser Aussage zustimmen würde. Die meisten sind wohl eher der entgegengesetzten Meinung, dieses Leben sei eigentlich viel zu kurz.

Der Amerikaner Ray Kurzweil („Singularity is near“), der seit vielen Jahren konsequent und systematisch an der Verlängerung seiner eigenen Lebenszeit arbeitet, meint, dass für 8 Milliarden Menschen bereits ab 2030 die relative Unsterblichkeit erreicht werden kann. Andere Wissenschaftler begnügen sich derzeit mit der Erforschung von Methoden zur Verlängerung der menschlichen Lebenszeit auf bis zu 150 Jahre. Ob sich hierdurch allerdings etwas an dem Grundgefühl vieler Menschen ändern wird, das Leben sei eigentlich zu kurz, wage ich zu bezweifeln.

Die eigentlich spannende Frage, die hinter diesem Grundgefühl, das Leben sei zu kurz, verborgen liegt, ist doch die: Wofür ist unser Leben denn eigentlich zu kurz? Was genau glaubt ein Mensch nicht tun zu können, weil seine Lebenszeit dafür nicht lang genug dauert?

Klar, dass die Erfüllung des einen oder anderen Traums im Rahmen einer menschlichen Lebenszeit nicht möglich ist. Für einen Menschen, der im 12. Jahrhundert um die Welt hätte fliegen wollen, war dieser Traum in den Grenzen seiner Lebenszeit nicht erfüllbar. Ob er glücklicher geworden wäre, wenn er weitere achthundert Jahre gelebt hätte, um dann eines Tages in ein Flugzeug zu steigen und um die Welt zu fliegen? Simone de Beauvoir hat diese Frage in ihrem großartigen Roman „Alle Menschen sind sterblich“ auf eindrucksvolle Weise beantwortet. „Leben heißt sterben lernen“ schrieb Seneca, der römische Philosoph. Der Tod ist ein ebenso existenzieller Teil des Lebens wie Zeugung und Geburt.

Aber was ist mit den realisierbaren Wünschen, Träumen und Plänen? Was verschieben wir auf morgen oder übermorgen oder irgendwann, obwohl wir es heute tun könnten, wenn wir es wirklich wollten? Ist die Annahme, wir würden es tun, wenn das Leben ein wenig länger dauern würde, nicht eine fatale Selbsttäuschung? Zumal ja keiner von uns weiß, wie lange sein eigenes Leben überhaupt je dauern wird. Liegt der Schlüssel zum Glück nicht eigentlich darin, zu erkennen, was wirklich wichtig ist in diesem Leben und die eigene Lebenszeit so zu nutzen, dass das wirklich Wichtige darin Vorrang hat – Tag für Tag? Ist die Frage, womit und mit wem ich meine Zeit verbringe, nicht wichtiger als die Frage, wieviel Zeit ich habe? Ersteres kann ich selbst entscheiden, letzteres nicht.

Es ist die qualitative Seite des Lebens, nicht die quantitative, die unser Glücksempfinden prägt und die darüber entscheidet, ob das Leben aus unserer Sicht nun (zu) lang oder (zu) kurz ist. „Das Leben ist lang, wenn Du es zu nutzen verstehst“ schrieb Seneca vor mehr als zweitausend Jahren. Seine Erkenntnis hat bis heute nichts an Gültigkeit verloren. Und so könnte man durchaus auch den Song von Brian Eno und David Byrne auf ihrem wunderbaren Album „Everything That Happens Will Happen Today“ verstehen. Hier kann man ihn anhören:

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