Thoughts & Insights

Die dünne Decke der Zivilisation

Es ist eine hauchdünne Membran, die unsere Erdkugel umgibt. Wir nennen sie die Erdatmosphäre. Sie schützt uns vor den tödlichen Strahlen des Universums. Die lebensspendenden Strahlen, die vom Zentralstern unseres Sonnensystems ausgehen, lässt sie dagegen hindurch. Sie ist ein einzigartiger Stoff von unschätzbarem Wert, geschaffen von eben diesem, ansonsten nicht gerade menschenfreundlichen Universum. Ein Geschenk.

Menschen können Vieles. Ob sie je einen solchen Stoff erschaffen werden, scheint zumindest fraglich. Menschen sind aber, wenn auch erst seit wenigen Jahrhunderten, gerade dabei, eine Membran ganz anderer Art zu erschaffen. Sie ist nicht kosmischer, sondern irdischer Art. Der Stoff, aus dem diese Membran gewebt ist, nennt sich Zivilisation. Er besteht aus den Erfahrungen und Erkenntnissen, die in winzigen Dosen über zigtausende von Jahren hinweg gewonnen wurden. Sie wurden von Generation zu Generation weitergegeben und immer wieder und wieder leichtfertig verspielt. Respekt ist der Grundstoff dieses menschlichen Gewebes. Ein langwieriger und mühseliger Prozess. Das Ende ist nicht absehbar.

Die Decke der Zivilisation, die uns vor den Spielarten der Barbarei und Tyrannei wie wir sie seit Jahrtausenden kennen, schützt, ist genauso hauchdünn wie die Erdatmosphäre, die unseren Planeten vor den tödlichen Strahlen der Sonne schützt. Doch im Unterschied zur Erdatmosphäre umhüllt dieser Stoff bisher immer noch nicht den gesamten Planeten mit all den unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften, die auf ihm existieren.

Menschen, die heute in demokratischen Rechtsstaaten aufwachsen, mögen dazu neigen, diesen Status für selbstverständlich zu halten. Eine gefährliche Haltung, denn er ist alles andere als das. Es ist und bleibt nur eine hauchdünne, verletzliche Membran, die uns von dem trennt, was Generationen vor uns in Europa leidvoll erlebt haben: Entrechtung, Unterdrückung, blutgetränkte Böden. In anderen Teilen dieser Welt heute noch traurige Realität.

Blicken wir über den Horizont unserer eigenen Lebenswelt hinaus, dann sehen wir, dass die Zivilisation des aufgeklärten Westens bis heute keine Hemmungen kennt, das fortzusetzen, was einst durch missionarischen Fanatismus in Verbindung mit geld- und machtgierigem Kolonialismus außerhalb des europäischen Abendlands angerichtet wurde – einst unter dem Deckmantel der Zivilisierung, heute mit anderen Mitteln. Geldgeschäfte mit Waffen an allererster Stelle.

Das Wachstum des lebensbedrohlichen Ozonlochs in der Erdatmosphäre konnte allen Aussagen der Wissenschaft zufolge in den zurückliegenden vier Jahrzehnten durch konsequentes politisches und praktisches Handeln gebremst werden. Wie wäre es, wenn sich das immer noch große Zivilisationsloch auf der Erde im Laufe dieses Jahrhunderts durch konsequentes politisches und praktisches Handeln endlich irgendwann schließen würde?

Viele Menschen bezweifeln bis heute den Sinn und Nutzen der Raumfahrt. Dass wir über ein kollektives Wissen von dieser hauchdünne Membran der Erdatmosphäre verfügen, ist jedoch allein den Aufnahmen der Apollo Astronauten zu verdanken, durch die sie fast genau auf den heutigen Tag vor 51 Jahren für die gesamte Menschheit zum allerersten Mal sichtbar wurde.

OUBEY begeisterte sich für die Erforschung des Weltraums und die Raumfahrt. „Je mehr wir über das Universum wissen, desto mehr wissen wir über uns selbst“, sagte er einmal. Das Universum war für ihn Teil seines Heimatgefühls genauso wie die Erde. Evolutions-, Wissenschafts- und Naturgeschichte beschäftigte ihn intensiv. Und immer wieder auch die Geschichte von den fundamentalen Erschütterungen früherer Gesellschaften durch Kriege wie den 30-jährigen Krieg in Europa oder den amerikanischen Bürgerkrieg. Es war ein hoher Preis, den unsere Vorfahren in diesen und vielen anderen kriegerischen Auseinandersetzungen für das gezahlt haben, was am Ende erreicht wurde: Frieden und auf dieser Basis eine Entwicklungsbewegung hin zu dem, was wir heute eine zivilisierte, d.h. von Bürgern in Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit getragene Gesellschaft nennen.

Heute befinden wir uns nun an der Schwelle zum dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Alles scheint möglich. Rückschritt und Fortschritt. Parallele kontrovers wirkende Kräfte. Keine einfache Zeit. Aber wann war die Zeit jemals einfach?

Wenn ich mir, an dieser Schwelle stehend, etwas für die kommenden achtzig Jahre dieses Jahrhunderts wünsche, dann ist dieser Wunsch dem Traum, von dem Martin Luther King seinerzeit vor mehr als fünfzig Jahren sprach, sehr verwandt. Es könnte so einfach sein, wenn wir nicht so wären wie wir sind. Aber es kann vielleicht auch genau nur deshalb möglich sein, weil wir so sind wie wir sind.

Die Geschichte wird es zeigen.

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