Thoughts & Insights

Nur weil die Erde sich dreht

„Und sie bewegt sich doch“ lautete vor mehr als 500 Jahren die im wahrsten Sinne des Wortes weltbewegende und systemsprengende Erkenntnis einiger mutig wissenschaftlich forschender Männer. Gemeint war die Erde. Diese Erkenntnis gefiel den mächtigen Männern der Kirche dieser Zeit ganz und gar nicht. Sie wollten, dass die Erde und damit der Mensch als Krönung der göttlichen Schöpfung der Mittelpunkt des Universums sei und bekämpften jeden, der dem widersprach, bis aufs Blut.

Inzwischen sind die damaligen wissenschaftlichen Erkenntnisse von Galileo, Kopernikus und Kepler über den Lauf der Gestirne längst zum Allgemeinwissen geworden. Heute weiß ein jeder, dass die Erde sich sowohl um ihre eigene Achse als auch um die Sonne dreht. Von der Erde als Mittelpunkt des Universums ist schon lange keine Rede mehr. Und doch ist etwas geblieben von der alten Sichtweise, dass die Sonne sich um die Erde bewegt und nicht umgekehrt.

 

Sie findet ihren sprachlichen Ausdruck bis heute und überall auf der Welt in allen Sprachen. Und zwar immer dann, wenn wir mit größter Selbstverständlichkeit vom Auf- oder Untergang der Sonne reden. Am Morgen geht sie auf, dann wandert sie im Tagesverlauf um die Erde herum und abends geht sie wieder unter. Die Erde steht in diesem Sprachmodell immer noch still. Obwohl wir alle wissen, dass es nicht so ist. Das ist bemerkenswert.

 

Wie kann es sein, dass wir seit mehr als 500 Jahren noch keinen adäquaten sprachlichen Ausdruck für diesen kosmischen Sachverhalt gefunden haben? Dass wir im 21. Jahrhundert täglich über das Verhältnis zwischen Erde und Sonne so reden als würden wir im 12. Jahrhundert leben?

 

Vielleicht liegt es an unserem Wahrnehmungsapparat. Wir spüren nichts von der Erddrehung, sondern leben in der Illusion eines fest stehenden Planeten, nur weil der Ort, an dem wir leben, immer im gleichen Kreuz von Längen- und Breitengrad bleibt. Unsere Alltagswahrnehmung lässt uns hin und wieder vielleicht sogar glauben, die Erde sei flach, da wir auf ihr immer problemlos geradeaus laufen können ohne jemals etwas von ihrer Krümmung zu spüren.

 

Dieser subjektiven Wahrnehmung schafft die großartige Zeitrafferaufnahme von Aryeh Nirenberg. In 55 Sekunden macht sie sowohl die Rotation der Erde als auch deren Krümmung sichtbar, indem es die Milchstraße als Referenzpunkt nimmt und die Landschaft in Bewegung bringt.

 

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Die Tatsache, dass wir bis heute den Sprachgebrauch einer Zeit pflegen, in der all dies noch nicht bekannt war, zeigt wie sehr wir in unserem tiefen Inneren noch am geo- bzw. anthropozentrischen Weltbild hängen. Und solange wir keinen zutreffenden Ausdruck für die wahren kosmischen Sachverhalte gefunden haben, wird uns unsere Sprache auch in diesem geistigen Zustand gefangen halten. Solange leben wir in einem permanenten Widerspruch zwischen dem, was die Astrophysik uns lehrt und dem, was unsere sinnlich erlebbare Alltagsrealität uns einredet – und das unbewusst. Unsere Alltagssprache bringt nicht das astrophysikalische Wissen zum Ausdruck, sondern die erlebte Illusion.

 

Erst wenn wir einen sprachlichen Ausdruck dafür gefunden haben, dass wir die Sonne am Horizont auftauchen sehen, sobald sich unsere Erde lange genug um sich selbst gedreht hat und dass wir sie am Horizont verschwinden sehen, sobald sich unsere Erdkugel dementsprechend weitergedreht hat – erst dann werden wir wirklich ein kosmozentrisches Verständnis von uns selbst und unserer Welt entwickelt haben, das im alltäglichen Denken verankert ist. Erst dann werden wir die tatsächlichen Verhältnisse in unserem Sonnensystem wirklich begriffen haben.

 

Ob uns das helfen wird, besser mit unserer Rolle auf diesem Planeten klarzukommen, sei dahingestellt. Doch die Tatsache, dass die Wahrnehmung die Sprache und die Sprache das Denken prägt und umgekehrt, ist unbestreitbar. Und wie es sich mit der Wechselwirkung von Wahrnehmung, Sprache und Denken auch immer verhalten mag – ich wüsste zu gerne wie ein adäquater Begriff für das, was wir heute einen Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang nennen, lauten könnte.

 

Vielleicht wird es ja mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, befreit von der Selbstbezogenheit unseres Bewusstseins und den Wahrnehmungseinschränkungen unseres menschlichen Gehirns, einen solchen Begriff irgendwann geben. Ich hoffe allerdings, dass uns damit dann nicht auch zugleich die Romantik verlorengeht, die wir mit dem wunderschönen Anblick dessen verbinden, was wir heute noch den Auf – oder Untergang der Sonne nennen.

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